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Von taktischen Schwenks will er nichts wissen: Martin Schulz am 15. September in Potsdam.
© Ralf Hirschberger/dpa

Martin Schulz im Interview: "Ich bin keiner, der Taktik über Inhalt stellt"

Der SPD-Spitzenkandidat will die Bundestagswahl noch nicht verloren geben. Im Interview spricht er über schlechte Umfragewerte, das Erstarken der AfD und das, was ihn von Angela Merkel unterscheidet.

Herr Schulz, Sie haben Ihr ganzes Leben gegen Rechtspopulismus und Rechtsradikalismus in Europa gekämpft. Nun steht die AfD vor dem Einzug in den Bundestag – womöglich zweistellig. Wer trägt dafür die Verantwortung?

Das müssen wir verhindern. Es wäre eine Zäsur in der Geschichte der Bundesrepublik und eine Schande für Deutschland. Unser Ansehen in der Welt würde dadurch schwer beschädigt. Die AfD ist ein Sammelbecken für Deutschnationale. Und wenn man sich einige Videos, die im Netz kursieren anschaut, scheint es unter den Anhängern auch harte Nazis zu geben. Diese Leute sind Brandstifter.

Halten Sie den AfD-Spitzenkandidaten Alexander Gauland für einen Nazi?

Leute, die so geredet haben wie Gauland, haben in der Weimarer Republik Adolf Hitler den Steigbügel gehalten. Gauland relativiert die Verbrechen im Zweiten Weltkrieg. Er hat im Bundestag nichts verloren. Und seine Gesinnungsgenossen auch nicht.

Wer trägt denn nun die Verantwortung für das Erstarken der AfD? 

Die AfD lebt von einem tief sitzenden Unbehagen von Menschen, die sich nicht respektiert fühlen. Dieses Gefühl kommt auch daher, dass alle Probleme weggeschwurbelt oder unter den Teppich gekehrt werden. Dagegen hilft nur eine ehrliche und schonungslose Debatte über die Zukunft des Landes. Dann, und nur dann, können wir die Zweifler zurückgewinnen.

Sigmar Gabriel gibt der Kanzlerin eine Mitschuld am Erstarken der AfD. Zu Recht?

Das hat er so nicht gesagt. Richtig ist aber: Angela Merkel macht Schlaftablettenpolitik. Sie will dieses Land systematisch sedieren. Das schadet der Demokratie. Und ist einer Kanzlerin unwürdig. 

Das heißt, Sie machen Merkel mitverantwortlich für den Boom der Rechtspopulisten?

Nein, das ist mir zu einfach. Ich habe als Politiker immer versucht, jedem einzelnen Menschen mit Respekt vor der individuellen Lebensleistung zu begegnen und auch so etwas wie Empathie zu zeigen. Da ist sicher nicht die größte Stärke von Frau Merkel.

Inwiefern?

Man muss auf Leute zugehen und versuchen, sich in ihre Lebenslage hineninzuversetzen. Gerade als Regierungschef.

Hat sich Angela Merkel nicht genug um die „Inländer“ gekümmert, wie Gabriel sagt?

Es war richtig, dass wir in der Flüchtlingskrise als reiches Land 2015 unserer humanitären Verpflichtung nachgekommen sind. Aber Angela Merkel hat mit dem Satz „Wir schaffen das“ anschließend anderen Leuten das Schaffen überlassen und sich selbst nicht um die Folgen ihrer Entscheidung gekümmert. Wenn Hunderttausende Menschen mehr im Land haben, brauchen wir natürlich mehr Geld für Sozialarbeiter, höhere Investitionen in die Schulen, mehr Lehrer, mehr Geld für Städte und Gemeinden. Viele Leute fühlten sich im Stich gelassen.

Sie meinen, Merkels Flüchtlingspolitik hat die AfD so stark gemacht? 

Die AfD gab es schon vorher. Die Flüchtlingspolitik Angela Merkels hat aber sicher dazu beigetragen, dass ein Teil des rechten Rands der Union sich nicht mehr mit der CDU identifizieren konnte und dass viele zur AfD wechselten.

Kein Thema schürt solche Emotionen wie die Flüchtlingskrise, der Streit geht bis hinein in die Familien. Woher kommt das?

Ich glaube, das liegt auch daran, dass Angela Merkel ihre Flüchtlingspolitik nie richtig erklärt hat. Der Herbst 2015 hat dieses Land verändert. Ich bin bis heute fassungslos darüber, dass die Regierungschefin dieses Landes damals keine große Rede oder Fernsehansprache gehalten hat, um die Menschen mitzunehmen. Mich wundert nicht, dass in diesem Vakuum Kontroversen entstanden sind, die sogar Familien spalten.

Da wir über Gefühle reden: Auf der einen Seite gibt es die AfD-Sympathisanten, die Merkel unbedingt weghaben wollen. Auf der anderen Seite stehen viele, die Merkel behalten möchten, weil sie Stabilität verspricht. Ist es für die SPD schwer, sich zwischen diesen Stimmungen zu behaupten?

Überhaupt nicht. Nur die wenigsten Menschen glauben, dass alles so bleiben kann, wie es ist. Sie merken, dass Angela Merkel keinen Plan für die Zukunft hat. Wenn es eine Weltmeisterschaft im Ungefähren geben würde, wäre Angela Merkel längst Champion. Sie will sich alles immer offenhalten. Sie bringt nie den Mut zu einem Bekenntnis auf. Aber unsere Zeit verlangt nach klaren Antworten. Ich sage Ihnen: Die Union geht bitteren Zeiten entgegen.

Vielleicht sind den Leuten klare Antworten gar nicht so wichtig und es ist so, wie Ihre Frau Inge sagt: „Die Leute wollen in Ruhe gelassen werden. Und du beunruhigst Sie.“ Kennt Inge Schulz die Menschen besser als Martin Schulz?

Ich habe meiner Frau gesagt: Du hast Recht. Aber ich habe die Aufgabe, den Menschen die Wahrheit zu sagen. Ich kann nicht schweigen darüber, was für dieses Land notwendig ist, nur weil ich damit die Menschen beunruhigen könnte. Ich werde nicht wegen ein paar Umfragen zum Taktiker. Ich bin ein prinzipienfester Mensch. Was wir bei Angela Merkel erleben, ist die Reduzierung von Politik auf taktische Raffinessen. Das macht die Leute kirre.

Ist der Wettstreit zwischen Ihnen und Angela Merkel auch einer der Politikstile – Gefühl gegen Nüchternheit?

Der Unterschied zwischen mir und Angela Merkel lässt sich in einem Satz zusammenfassen. Der heißt: Das Leben ist keine physikalische Versuchsanordnung. Man kann Politik nicht betreiben wie ein physikalisches Experiment. Man muss den Mut aufbringen, mit Populisten und autokratisch angehauchten Leuten wie Donald Trump, Wladimir Putin und Recep Tayyip Erdogan Klartext zu reden.

Ihr Wahlkampf war eine emotionale Achterbahnfahrt.  Erst wurden Sie als „Gottkanzler“ gefeiert, später als Verlierer abgeschrieben. Wie werden Sie damit fertig?

Indem ich mich von solchen Zuschreibungen nicht beeindrucken lasse. Ich habe nur wegen der guten Umfragen im Februar nicht daran geglaubt, dass wir die Union schon überholt hätten. Und ich gebe die Wahl nur wegen schlechter Umfragewerte nun auch nicht verloren.

Der Kandidat beim Tagesspiegel-Interview in seinem Büro im Willy-Brandt-Haus.
Der Kandidat beim Tagesspiegel-Interview in seinem Büro im Willy-Brandt-Haus.
© Mike Wolff

Sie haben den Wahlkampf ganz angelegt auf soziale Gerechtigkeit. War das zu eng?

Überhaupt nicht. Das Ding ist nicht gelaufen. Fast jeder Zweite hat sich noch nicht entschieden. Die Leute warten. Sie spüren, dass Angela Merkel vielleicht doch keine Antwort hat auf die Fragen nach der Zukunft der Rente, nach dem Ausbau der Kitas, nach der Begrenzung der explodierenden Mietpreise. Schauen Sie sich an, welche Themen für die Deutschen die wichtigsten sind: Bildung, Rente, Mieten, Familie stehen da ganz oben. Und das sind die Themen, auf die wir Antworten geben. Ich bin keiner, der Taktik über Inhalt stellt.

Glauben Sie, dass die Wähler Sie am Ende für Kampfgeist und Konsequenz belohnen werden?

Ja, das glaube ich. Ich beuge mich nicht, ich halte meinen Kurs. Nur wer kämpft, bekommt den Respekt der Wähler.

Aber nur eine Minderheit in Deutschland glaubt, dass Sie am Ende Kanzler werden können…

Ein Grund mehr, weiter zu werben. Mein Ziel ist es, die Bundesregierung anzuführen.

Aber Sie halten sich die Möglichkeit offen, wieder als Juniorpartner in eine große Koalition zu gehen…

Wer hält sich das offen?

Sie tun das. Oder wollen Sie eine Woche vor der Wahl eine große Koalition unter Angela Merkels Führung doch noch ausschließen?

Eins schließe ich aus: Bis zum Wahltag für etwas Anderes zu kämpfen, als dafür, die Regierung anführen zu können.

Die Grünen haben die SPD als Regierungspartner schon abgeschrieben und buhlen um Schwarz-Grün. Hatten Sie damit gerechnet?

Teile der Grünen zieht es schon lange zur Union, andere Teile würden lieber mit uns regieren. Die Grünen sind in einer schwierigen Lage. Aber ich habe jetzt keine Zeit, mir über deren Probleme den Kopf zu zerbrechen.

Appellieren Sie an rot-grüne Wechselwähler, ihr Kreuz bei der SPD zu machen?

Natürlich. Jeder, der überlegt die Grünen zu wählen, sollte sich klarmachen: Wer die Union ablösen will, muss die SPD wählen. Wer seine Stimme verschenkt, verlängert Merkels Amtszeit.

Gibt es eigentlich eine schwierigere Aufgabe in der deutschen Politik als die SPD-Kanzlerkandidatur?

Es ist richtig: Die SPD muss unterschiedliche Milieus binden, das kostet enorm viel Zeit und Geduld, das erfordert eine gute Kommunikation. Ich sage Ihnen mal, worauf ich am meisten stolz bin: auf die 100 Prozent, mit denen die Delegierten des Parteitags im Juni unser Programm beschlossen haben. Ich habe viel Kraft darauf verwendet, alle Teile der Partei hinter diesem Programm zu versammeln. Deshalb steht die Partei auch heute so geschlossen da.

Bleibt das auch im Fall einer Niederlage so?

Ich setzte darauf, dass zwei Sachen belohnt werden am 24. September: Mein integrativer Führungsstil, der auf autoritäre Anwandlungen verzichtet. Und die Tatsache, dass ich zu meinen Überzeugungen stehe, komme, was da wolle. Die SPD wird nicht auseinanderlaufen, was immer auch passiert. Da bin ich ganz sicher.

Sie sind auch als SPD-Parteichef mit 100 Prozent gewählt worden. Was bedeutet das für Sie?

Ich empfinde das Ergebnis als Verpflichtung, nach der Wahl in jedem Fall weiterzumachen. Auch deshalb habe ich angekündigt, auf dem Parteitag im Dezember wieder zu kandidieren.

Wagen Sie eine Prognose: Bei welcher Zahl wird die SPD am Sonntag um 18 Uhr landen?

Ich bin sicher: Wir werden sehr viel besser abschneiden, als viele glauben!

Herr Schulz, als Ex-Buchhändler kennen Sie Albert Camus und dessen Buch „Der Mythos des Sisyphos“. Muss man sich den SPD-Kanzlerkandidaten als glücklichen Menschen vorstellen?

Natürlich! Allerdings lege ich Wert auf die Feststellung, dass ich nicht Sisyphos bin.

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