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Politik: „Hunger muss in 50 Jahren besiegt sein“

Welthungerhilfe-Präsidentin Bärbel Dieckmann über Erfolge, Risiken und Perspektiven ihrer Arbeit.

Frau Dieckmann, die Welthungerhilfe wird 50 Jahre alt. Sie sagen, Sie wollen sich überflüssig machen. Stimmt das denn? Sie beschäftigen immerhin 3000 Menschen.

Wir haben 50 Jahre daran gearbeitet, den Hunger in der Welt zu reduzieren. Das ist uns, gemeinsam mit anderen, auch gelungen. Der prozentuale Anteil der Hungernden ist zurückgegangen. Es werden heute ausreichend Lebensmittel in der Welt produziert, um mehr als sieben Milliarden Menschen zu ernähren – trotzdem hungern noch 860 Millionen. Das ist für uns Anlass, darüber nachzudenken, wie wir so arbeiten können, dass wir uns irgendwann überflüssig machen. Es wird zwar immer soziale Aufgaben geben, aber der Hunger muss in 50 Jahren besiegt sein.

Die Welthungerhilfe ist in einigen Ländern seit mehr als 20 Jahren tätig, etwa in Haiti. Dort gibt es natürlich immer wieder Naturkatastrophen, aber vor allem ist das Land schlecht regiert. Können Sie da überhaupt etwas Sinnvolles tun?

Es gibt Länder, die seit 20 oder gar 30 Jahren fragile Staaten sind, in denen sich politisch nicht viel geändert hat. In Haiti ist die Regierungsführung seit vielen Jahrzehnten schwierig. Allerdings tragen auch die Industriestaaten oft eine Verantwortung. Der Reisanbau in Haiti ist zusammengebrochen, weil subventionierter Reis aus den USA den Markt zerstört hat. Aber es gibt auch positive Nachrichten. Als Sandy über das Land hinweggefegt ist, hat der Wirbelsturm zwar Ernten zerstört, so dass dringend Hilfe benötigt wird. Aber die Häuser, die wir in den vergangenen anderthalb Jahren mit den Menschen gebaut haben, sind fast alle stehen geblieben. Es wurden Drahtgitter in die Wände mit eingebaut, um sie stabiler zu machen. Ich habe mich gerade auf Haiti selbst davon überzeugt. Einige Länder konnte die Welthungerhilfe auch verlassen wie etwa Thailand oder Chile.

Die Menschen in Haiti oder anderswo sehen in einer Notsituation kaum einen Unterschied zwischen der Welthungerhilfe, dem World Food Programme der UN oder irgendeiner anderen Organisation – sie stehen alle für den Westen. Werden Sie angesichts solcher Widersprüche manchmal als politisches Feigenblatt missbraucht?

Als Feigenblatt empfinde ich uns nicht. Aber es genügt nicht, in einem Projekt Hunger zu bekämpfen. Es gibt Veränderungen, die nur politisch in Gang gesetzt werden können. Wir wollen daher eine politische Stimme sein, aber auch die Menschen so stärken, dass sie keinen Hunger mehr leiden, dass sie ihre Kinder in die Schule schicken können und dass sie auf Dauer eine Gesellschaft bilden, in der sie ihre eigenen Interessen durchsetzen können. Wir können immer nur Hilfe zur Selbsthilfe leisten.

Sicherheitsprobleme gab es immer für NGOs. Stimmt der Eindruck, dass das Entführungsrisiko für westliche Helfer zugenommen hat?

Das Risiko hat weltweit zugenommen. Im vergangenen Jahr wurden 95 Mitarbeiter von Hilfsorganisationen weltweit Opfer von Entführungen. Oft sind es Entführungen, bei denen es um Geld geht, manchmal gibt es auch politische Gründe. Wir haben ein sehr ausgefeiltes Sicherheitskonzept, das alle Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter einbindet und so weit wie möglich schützt. Das ist auf einige Länder auch noch einmal speziell zugeschnitten, wenn wir etwa angemietete Autos ohne Logos benutzen. Die meiste Sicherheit bieten uns die Menschen in den Dörfern, in denen wir arbeiten. Aber es gibt Einsatzorte, die eine große Herausforderung darstellen, etwa Afghanistan oder Somalia.

Eigentlich gibt es beispielsweise in Indien doch genügend Geld, um die eigene Bevölkerung zu ernähren. Müssen nicht einheimische Geldgeber stärker zur Kasse gebeten werden?

Es ist richtig, die Arbeit mit den Schwellenländern genau zu prüfen und gegebenenfalls zu beenden. Deutschland hat die Zusammenarbeit mit China beispielsweise beendet. Wir als Welthungerhilfe sind nicht mehr in Brasilien. Auch dort gibt es noch Armut, aber Armut gibt es auch in Russland. Indien ist für mich ein Land, das es in den nächsten Jahren selbst schaffen muss. Dass es dort immer noch Hunger gibt, hat auch religiöse und gesellschaftliche Gründe. Um diese Missstände endgültig zu beseitigen, sind lokale Nichtregierungsorganisationen entscheidend. Wir unterstützen in Indien vor allem strategische Vorhaben, um die lokalen Kräfte langfristig zu stärken.

In welchen Fällen geht es wirklich um Geld?

Es kann gutgehen. Mali ist ein Beispiel dafür. Wir und andere Hilfsorganisationen haben schon frühzeitig vor einer sich anbahnenden Hungerkrise gewarnt. Und da hat das Entwicklungsministerium schnell reagiert und Geld zur Verfügung gestellt. Eine Hungerkatastrophe konnte durch frühes Eingreifen verhindert werden. Die Dürre im Sahel in diesem Jahr hat gezeigt, dass Krisen vermieden werden können.

Solche Krisen dürften eher mehr werden, wenn durch den Klimawandel immer mehr Menschen ihre Heimat verlassen müssen. Sind Sie darauf vorbereitet?

Wir arbeiten in allen Projekten mit Anpassungsmaßnahmen an den Klimawandel. Wir richten uns aber auch darauf ein, dass es Regionen geben wird, die in 30 Jahren vielleicht nicht mehr bewohnbar sein werden. Die Anpassung an den Klimawandel bedeutet für unsere Arbeit eine zunehmende Herausforderung. Negative Folgen wie Überschwemmungen und Dürren bedrohen schon jetzt gerade die armen Menschen in den Entwicklungsländern. Der Klimawandel geht uns alle an. Wir können nicht wollen, dass hunderttausende Menschen sich wegen klimabedingter Veränderungen auf die Flucht begeben müssen. Auch das ist ein Grund, dass wir alles tun müssen, um die Lage vor Ort zu verbessern. Die Menschen wollen ihre Heimat eigentlich nicht verlassen. Das ist nur der letzte Schritt, wenn sie keine andere Chance mehr haben.

Das Gespräch führten Dagmar Dehmer und Annette Kögel.





Bärbel Dieckmann
, SPD-Politikerin, war von 1994 bis 2009 Oberbürgermeisterin von Bonn. Seit 2008 ist sie Präsidentin der Welthungerhilfe.

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