Nur rund 30 Corona-Intensivpatienten: Hohe Impfquote bewahrt Schweden vor einer Notlage
Anders als viele Staaten Europas kämpft Schweden derzeit nicht mit einer vierten Corona-Welle. Die Lage in den Kliniken ist entspannt.
In vielen Ländern Europas schnellen die Infektionszahlen in die Höhe, auch in Deutschland sind viele Kliniken wegen der stark steigenden Zahl von Covid-19-Patient:innen am Rande der Belastungsgrenze. Aus München heißt es, die Kliniken bereiteten sich bereits auf Triage vor. Aktuell liegen in Deutschland derzeit mehr als 3400 Covid-19-Erkrankte auf den Intensivstationen.
In Schweden zeichnet sich seit geraumer Zeit ein gegenteiliges Bild. In dem Land mit seinen rund 10,2 Millionen Einwohnern brauchen derzeit nur insgesamt rund 30 Covid-19-Patient:innen intensivmedizinische Betreuung.
Aus Intensivmediziner-Kreisen erfuhr der Tagesspiegel, dass noch etwa 47 Betten für Covid-Patient:innen im Land frei wären, von den insgesamt 493 Betten. Man gehe davon aus, dass die Situation sich auf den Intensivstationen verschlimmern könnte, wenn die vierte Welle einbricht. Auch weil die Mitarbeiter:innen erschöpft sind.
Den höchsten Wert auf Intensivstationen verzeichnete das Land Ende April 2020 mit 558 Patient:innen. Der Trend spiegelt sich auch in den seit Sommer anhaltend niedrigen Zahlen der Covid-19-Toten wider. Am Donnerstag wurden zwei Todesfälle und 1220 neue Infektionen gemeldet.
Dass ausgerechnet das Land, das wegen seines Kurses in der Pandemie oft im Fokus und häufig auch in der Kritik stand, jetzt keine Notlage in seinen Kliniken sieht, dürfte an der vergleichsweise hohen Impfquote liegen. Die deutsche Impfquote von 67,9 Prozent weicht zwar nur minimal von der schwedischen mit 68,77 Prozent ab. Bei einem genaueren Blick auf die Impfstatistik der Nordeuropäer:innen werden aber Unterschiede deutlich.
Die Schwedinnen und Schweden wirken nicht so impfmüde wie die Deutschen. Im Norden sind nach Angaben der schwedischen Gesundheitsbehörde fast 82 Prozent der über 16-Jährigen vollständig geimpft, bald werden es fast 85 Prozent sein. Noch besser sieht es in den besonders vulnerablen Bevölkerungsteilen aus: In den Gruppen der 60- bis 69-Jährigen, 70- bis 79-Jährigen und 80- bis 89-Jährigen sind jeweils über 90 Prozent vollständig gegen das Coronavirus geimpft.
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In den Altersgruppen 40-49 und 40-59 nähert sich die Quote auch der 90 Prozent und fast 80 Prozent der noch jüngeren Bevölkerung ab 16 Jahren stehen bald mit vollem Impfschutz da. Innerhalb der vulnerablen Gruppen in Schweden ist die Impfquote also höher als in Deutschland. 85,8 Prozent der über 60-jährigen Deutschen sind vollständig geimpft.
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Seit Ende September sind in Schweden alle Maßnahmen und Empfehlungen aufgehoben. In Clubs, Kinos, Bars und Restaurants darf jeder eintreten. Personendaten werden nicht erfasst, es gibt keine Abstände zwischen den Tischen – bisher ist das Vorzeigen eines bisher Impfzertifikats nicht nötig. Aus dieser Sicht wirkt der Impfdruck auf die Schwed:innen gering. Angesichts der Quote ist kein 3G oder gar 2G nötig.
Allerdings werfen Kritiker:innen den schwedischen Behörden vor, man habe in der ersten Welle das Coronavirus ungebremst durchs Land rauschen lassen, weil es kaum Auflagen und Beschränkungen gab, sondern die Verantwortlichen es größtenteils bei Appellen an die Bevölkerung beließen. Die Zahl der Menschen, die sich mit dem Coronavirus infizierten, dürfte deutlich höher sein als offiziell angegeben, zumal auch die Testkapazitäten sehr langsam hochgefahren wurden.
Die schwedische Ärztin Elisabeth Noren sagte im Gespräch mit dem Tagesspiegel, dass wahrscheinlich mehr Menschen als angegeben an Post-Covid leiden und mit anhaltenden Lebenseinschränkungen rechnen müssen. Auch das werde auf das Gesundheitssystem und die Gesellschaft zurückfallen. Mit frühen strengen Maßnahmen wäre das Ausmaß möglicherweise kleiner.
Insgesamt verzeichnet Schweden in der Pandemie 1.187.607 bestätigte Infektionen und 15.109 Covid-19-Tote (Stand Donnerstag). Pro Million Einwohner liegen die Werte aber höher als in den anderen nordischen Staaten.
Bestätigte Infektionen/Covid-19-Tote pro Million Einwohner (Quelle: Johns-Hopkins-Universität)
- Schweden 116.624/1484
- Norwegen 44.735/187
- Dänemark 76.416/483
- Finnland 31.466/226
- Deutschland 63.573/1191
Auch die von der Regierung eingesetzte Corona-Untersuchungskommission hatte sich Ende Oktober dieser Kritik angeschlossen, die Reaktion auf die Pandemie als „unzureichend” bezeichnet. Eine neue Studie kam zu dem Schluss, dass Schwedens laxe Maßnahmen wohl auch die Infektionen in Nordeuropa antrieben, denn das restliche Skandinavien ging mit strikten Corona-Maßnahmen in die Pandemie.
Der viel kritisierte Chefepidemiologe Anders Tegnell rechnete unlängst im Deutschlandfunk damit, dass auch auf Schweden die vierte Welle zukommen werde. „Wir müssen jetzt so viele Menschen impfen wie möglich. Vor allem die anfälligsten Teile der Bevölkerung. Das ist der einzige Weg, die Pandemie in den Griff zu bekommen. Alle anderen Maßnahmen helfen vielleicht ein bisschen. Aber den wirklichen Unterschied machen die Impfungen.”
Auch die Regierung in Stockholm bleibt vorsichtig. Angesichts des hohen Infektionsgeschehens in Europa führt Schweden ab dem ab 1. Dezember einen Corona-Impfpass ein. Dieser gilt vorerst für öffentliche Veranstaltungen in geschlossenen Räumen mit mehr als 100 Teilnehmern. Der Impfpass wird bei Veranstaltungen wie Konzerten, Theatern und Sportereignissen verlangt, nicht aber in Restaurants und Bars.
Für Veranstalter, die den Ausweis nicht verlangen, sollen andere strenge Beschränkungen in Bezug auf die Anzahl der Besucher und die Abstandsregeln gelten. Aktuell sind die Fallzahlen vergleichsweise niedrig. Die Sieben-Tage-Inzidenz liegt bei knapp 60. Das Land rechne im Winter jedoch mit einem Anstieg der Fälle und sei „nicht vom Rest der Welt isoliert“, sagte Gesundheitsministerin Lena Hallengren.