Von der Synode in Rom bis zum Stuttgarter Bildungsplan: Höchste Zeit für einen familienpolitischen Bildersturm
Um das richtige Familienbild wird gekämpft - in Rom, Stuttgart und anderswo. Doch auch wer Vielfalt predigt, will am Ende einsortieren. Höchste Zeit also für einen familienpolitischen Bildersturm. Ein Kommentar.
Die „klassische“ Familie, titelten Anfang dieser Woche viele Zeitungen, „wird immer seltener“. Das Statistische Bundesamt hatte Zahlen aus dem Mikrozensus 2013 veröffentlicht. Demnach sind in Deutschland 70 Prozent aller Eltern von mindestens einem minderjährigen Kind verheiratet. 1996 waren es noch 81 Prozent. Besonders selten sind Eltern in großen Städten und in Ostdeutschland verheiratet, in Berlin nur rund die Hälfte.
In der Hauptstadt kann man also anfangen darüber nachzudenken, ob die „klassische“ Familie dieses Attribut noch verdient. Die Individualisierung der Lebensmodelle ist hier weit gediehen. Jeder lebt ziemlich unbehelligt nach seiner Façon. Von Berlin auf eine allgemeine Entideologisierung des Familienbildes zu schließen, wäre aber verfrüht. Beide Seiten, Konservative wie Progressive, kämpfen verbissen um ihre Leitbilder – und verstellen so den Blick auf die wahren Probleme. Um sich davon zu überzeugen reicht zurzeit ein Blick auf Rom und auf Stuttgart. Beginnen wir mit Rom.
Vom Ausgang der Synode in Rom waren viele enttäuscht
In Rom ist vor einer Woche die außerordentliche Bischofssynode zu den „pastoralen Herausforderungen der Familie“ zu Ende gegangen. Das Gespräch wird in einem Jahr fortgesetzt. Vom Ausgang waren viele Beobachter enttäuscht. Dass man überhaupt über das Thema geredet hat, ist allerdings ein Fortschritt. Allein die Begrifflichkeiten, mit denen die katholische Kirche operiert, zeigen die große Distanz zwischen den „Vätern“ und jener „weltlichen Kultur“, die der Papst zur Vorbereitung der Synode mit einem Fragebogen ergründen ließ. Die Rede ist von „faktischen Lebensgemeinschaften“ und „irregulären Ehe-Situationen“. Im Bericht der Synode heißt es: „Das Leben der Familie ist gekennzeichnet durch eine Schwächung des Glaubens und der Werte, den Individualismus (...).“ Der Individualismus, für den Papst ist er eine Krankheit, die dazu führt, dass sich Gemeinschaften zersetzen. Er setzt die Individualisierung gleich mit der Entfremdung vom christlichen Ideal.
In Baden-Württemberg ist es umgekehrt. Die Individualisierung soll hier in Zukunft Unterrichtsziel sein. Seit Monaten gärt dort der Streit um eine Lehrplanreform der grün-roten Landesregierung. Bürger protestieren, vor allem gegen das Vorhaben, eine größere Vielfalt von sexuellen Orientierungen, Familienmodellen und Sexualpraktiken in der Schule zum Thema zu machen. In dieser Woche beschimpfte der Vorsitzende des baden-württembergischen Philologenverbands die Befürworter als „postmoderne Entgrenzer“.
Tatsächlich gab es im Zuge der Erarbeitung des Bildungsplans einige erstaunliche Vorschläge. In einer inzwischen zurückgezogenen Broschüre der AG Lesben, Schwule und Transsexuelle der GEW wurden etwa folgende Unterrichtseinheiten vorgeschlagen: Ein Arbeitsblatt für die vierte Klasse zeigt ein Haus mit sieben Wohnungen. In einer wohnen zwei Frauen mit Kind, in einer zwei Männer, in einer ein Mann, eine Frau und zwei Kinder und so weiter. Die Schüler besprechen, was sie sehen, kommen sie nicht von selbst darauf, dass auch lesbische oder schwule Paare dabei sein könnten, werden sie vom Lehrer darauf hingewiesen. Für die siebte Klasse wäre nach Vorstellung der GEW das „Minderheitenspiel“ vorgesehen. An zwei Wänden im Klassenraum werden Schilder befestigt, auf denen steht „Ich“ und „Ich nicht“. Der Lehrer liest Fragen vor (zum Beispiel: „Wer lebt mit Mutter und Vater zusammen“), die Schüler sortieren sich unter den beiden Schildern. „und nehmen ihre Gefühle in ihrer jeweiligen Position wahr“.
Die Idealisierung des Pluralismus hat denselben Effekt wie der Dogmatismus der Kirche
Die Idealisierung des Pluralismus hat in dieser Form denselben Effekt wie der trennende Bindestrich der katholischen Kirche zwischen „Ehe“ und „Situation“. Es gibt zwar immer mehr Kategorien des Zusammenlebens und alle sind legitim. Die Notwendigkeit, sich irgendwo einzuordnen, aber bleibt: Schon Kinder sollen sich sortieren. Beide, die Pluralismus-Prediger aus Baden-Württemberg und die reaktionären Kräfte in der katholischen Kirche, betonen die Unterschiede verschiedener Familienmodelle – und zerstören damit jenes Gemeinschaftsgefühl, dass sie fördern wollen.
In der familiären Realität hat sich an vielen Orten der Republik längst eine familiäre Normalität verbreitet, die nach diesen Kategorien gar nicht mehr fragt. Für die Statistiker vom Bundesamt ist für den Begriff „Familie“ konstitutiv, dass es Kinder gibt. Und das reicht zunächst auch. Alle Eltern haben ähnliche Sorgen, egal, ob sie einen festen Partner haben oder was genau sie mit ihm verbindet.
Familienpolitik, sei sie staatlich oder kirchlich, muss daher im besten Sinne ikonoklastisch sein. Sie muss sich loslösen von Kategorien, die fragen: Was bist du?, denn die verstellen den Blick auf die Frage: Was brauchst du? Ein Beispiel? 20 Prozent aller Eltern (meist sind es Mütter) sind inzwischen alleinerziehend, in Berlin sogar ein Drittel. Ein Großteil von ihnen ist armutsgefährdet. Sie sind stärker als andere angewiesen auf eine vernünftige und flexible Betreuungsinfrastruktur. Die Alleinerziehenden sind eine politisch und seelsorgerisch sinnvolle Kategorie.