Griechen und Deutsche: Historiker Fleischer: Doppelmoral gibt es auf beiden Seiten - aber die deutsche wiegt schwerer
Die Griechen litten schlimmer als alle anderen westlichen Opfer der NS-Besatzung. Der deutsch-griechische Historiker Hagen Fleischer erklärt, was das mit der Eurokrise zu tun hat.
Herr Fleischer, Sie sind gebürtiger Deutscher, eingebürgerter Grieche und leben und arbeiten seit 35 Jahren in Athen. Was hat die Krise verändert?
Ich habe mehrere Aufbruchsituationen in Griechenland erlebt. Als ich 1968 erstmals ins Land kam, war ich fasziniert, wusste aber, dass ich dort nicht leben könnte, solange die Militärdiktatur andauerte. Doch als wir –mittlerweile mit meiner griechischen Frau – uns 1977 zum großen Sprung von Berlin nach Athen entschlossen, war das Land in einer Aufbruch- und Hochstimmung: Die Aufnahme in die EWG stand bevor und das war nach dem Ende des Obristenregimes 1974 eine Vision, die Chance für einen Neuanfang. Und obwohl viele Skeptiker den Beitritt für verfrüht hielten, haben sich Frankreich und Deutschland damals dafür eingesetzt, Giscard d'Estaing und Helmut Schmidt. Griechenland wurde noch vor den iberischen Staaten Mitglied der damaligen EWG. Im selben Jahr 1981 markierte der Erdrutschsieg der sozialistischen Pasok einen weiteren Neuanfang. Nach einem halben Jahrhundert stockkonservativer bis autoritärer Regierungen wurde erstmals eine „progressive“ gewählt. Aber von diesem Enthusiasmus ist nichts geblieben.
Daran dürften aber nicht allein die anderen Europäer und die Sparauflagen schuld sein.
Nein, und die Griechen sehen sehr wohl die Schuld ihrer Regierungen an der Krise, auch die eigene – profitable – Verstrickung in Klientelen jeder politischen Richtung. Man sieht sich aber zu Unrecht zum Schmuddelkind der EU gemacht. Die antigriechischen Stereotype, die hämischen Kommentare aus Europa bewirken Gegenreaktionen – am stärksten, wenn sie aus Deutschland kommen.
Sie meinen die „Pleitegriechen“, denen die Bild-Zeitung empfahl, doch ihre Inseln zu verkaufen?
Nicht nur. Schmutz und Häme schleudern leider auch sogenannte seriöse Medien. Was die „Bild“ betrifft, besitzt sie übrigens nicht das Copyright der Idee. Deutsche Begierden nach griechischen Inseln manifestierte bereits die NS-Kriegsmarine, die etwa Kreta auf ewige Zeiten als militärischen Aussenposten behalten wollte. Ganz allgemein aber gibt es wenig Interesse in der Mediensteppe, den Standpunkt der anderen Seite zu erfahren. Als 63 griechische Hochschullehrer, die in Deutschland studiert hatten, 2010 dem „Spiegel“ einen offenen Brief schrieben – einen sehr maßvollen, in dem sie verstört die Verschlechterung der bilateralen Beziehungen beklagten und eine Verbesserung des Wissensstandes zu Griechenland anmahnten – endeten Brief und Wissensstand im Papierkorb des Magazins. Im zweiten Versuch hat dann die „Süddeutsche Zeitung“ immerhin auszugsweise über die Forderungen der Absender berichtet. Komprimiert lässt sich sagen: Deutsche Schmähungen erreichen alle Winkel in Griechenland, die griechische Sicht hingegen interessiert in Deutschland anscheinend wenig. Der Standpunkt des deutschen Mainstream erinnert mich noch immer an den des Zinnsoldaten. Der kennt nur den eigenen und schleppt ihn mit, wohin er auch geht.
Nazi-Vergleiche
Die Nazi-Anspielungen gegen Deutschland in griechischen Medien hat man hier durchaus bemerkt. Und vermutet, hier werde die NS-Vergangenheit in der Krise instrumentalisiert.
Die Erinnerung an die deutsche Besatzung Griechenlands ist aber echt, sie basiert auf wirklich Erlittenem und sie ist nie verschwunden. Zwar wollten die griechischen Nachkriegs-Regierungen, die – auch infolge des Bürgerkriegs – stramm im westlichen Lager standen, Bonn nicht verärgern für den Fall, dass aus dem Kalten Krieg wieder ein heißer würde. Man habe den gleichen Feind, den Weltkommunismus, und brauche im Bündnis – so hieß es wörtlich – die „kriegerischen Tugenden“ der Deutschen. Da wurde in Athen viel unter den Teppich politischer Opportunität gekehrt. Aber was es in diesem Fall zu kehren gab, passte unter keinen Teppich.
Was meinen Sie?
Griechenland hat von 1941 bis 1944/45 eine besonders grausame deutsche Okkupation erlebt. Unter den besetzten westlichen Ländern hatte es mit Abstand die höchsten Verluste, an Menschenleben wie auch in materieller Hinsicht. Gleichzeitig war der griechische Widerstand einer der stärksten in Europa. Ein brutales Sterben war Alltag, die ganze Bevölkerung hat damals einen Knacks bekommen. 60 000 griechische Juden wurden ermordet, ungezählte nichtjüdische Griechen wurden erschossen, gehängt, oder zu Tode gefoltert. In der großen Hungersnot starben mindestens 100 000 Griechen, vielleicht weit mehr. Zugleich schürte die deutsche Propaganda systematisch innergriechische Gegensätze und den schließlich zum Bürgerkrieg führenden Hass. Die deutschen Akten lassen daran keinen Zweifel. Die griechische Wirtschaft, die Wälder, die reichen kriegswichtigen Bodenschätze wurden im Raubbau ausgebeutet, die Infrastruktur des Landes wurde systematisch zerstört, alle Brücken, zahlreiche Häuser, 80 Prozent des rollenden Materials, der Fahrzeuge.
Jeder dritte Grieche litt nach Schätzungen des Internationalen Roten Kreuzes an epidemischen Infektionskrankheiten wie Gelbfieber, Tuberkulose oder Typhus, in manchen Gegenden 60 oder 70 Prozent der Kinder. Eine ganze Generation, die Zukunft des Volkes, war in Gefahr. Die Krankheiten gab es auch zuvor, sie vervielfachten sich aber unter der Besatzung. Das ist in Deutschland praktisch unbekannt, und man wollte und will es wohl auch nicht wissen: Als ich über Distomo schrieb, jenes Dorf, wo im Juni 1944 Deutsche auch Frauen und Kinder brutal ermordeten und Schwangeren die Föten aus dem Leib schnitten, bekam ich wütende Briefe: So etwas tue der deutsche Soldat nicht, das sei „balkanische Grausamkeit“. Leider sind auch diese Verbrechen zweifelsfrei dokumentiert. Und die Täter trafen sich jahrzehntelang zu rührseligen Veteranentreffen im fränkischen Marktheidenfeld.Ein anderes Beispiel: In der deutschen Ausgabe des Reiseführers „Guide bleu“ war bis in die 80er Jahre über die Kleinstadt Kalavryta nur zu lesen, dass von dort 1821 die griechische Unabhängigkeitsbewegung ausging. Kalavryta war aber 1943 auch der Ort des schlimmsten deutschen Massakers in Griechenland. Das stand nur in der französischen Edition.
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Was ist mit griechischen Reparationsforderungen? Hier gibt es den Vorwurf, Athen mache sie jetzt, in der Krise, zum Thema, um vom eigenen Schuldenproblem abzulenken?
Natürlich gibt es hier auch eine innergriechische Agenda. Dennoch hat Athen die Reparationsfrage immer wieder gestellt, auch offiziell, so etwa mit einer Verbalnote 1995. Zuvor hatten die Bundesregierungen alle Ansprüche stereotyp mit dem Hinweis auf das Londoner Schuldenabkommen von 1953 abgewiesen: es sei noch zu früh, denn das Thema könne nur mit einem vereinten Deutschland ausgehandelt werden. Nun war Deutschland vereint und Griechenland erhielt die Antwort: Jetzt ist es zu spät. Diese fadenscheinige Trickserei hat damals eine erste antideutsche Welle ausgelöst. Was nicht ganz unverständlich ist: Zu entscheiden, wer wann erinnern darf und wer wann was zu vergessen hat, auch das ist Arroganz der Mächtigen.
Neue deutsch-griechische Beziehungen
Um wie viel Geld geht es?
Leider gilt bei vielen griechischen Politikern und Journalisten der Grundsatz: Wer die höchste Forderung stellt, ist der größte Patriot. Definitive Schadenssummen zu berechnen ist unmöglich, einerseits infolge der durch die Besatzung verursachte Hyperinflation, zum anderen da das Thema jahrzehntelang nicht opportun war. Obwohl also Griechenland von allen betroffenen Ländern theoretisch den höchsten Nachholbedarf hat, halte ich die Einklagung von Reparationen im eigentlichen Sinne nicht für realisierbar. Anders liegt die Situation mit dem 1942 bis1944 der griechischen Nationalbank abgepressten sogenannten Besatzungskredit, den sogar die Nazis als Kredit anerkannten, partiell zurückzahlten und Anfang 1945 als „Reichsverschuldung gegenüber Griechenland“ auf 476 Millionen Reichsmark berechneten: im heutigen Gegenwert etwa sechs bis sieben Milliarden Euro, ohne Zinsen. Hier könnte und müsste die Bundesregierung Deutschland sich an den Verhandlungstisch setzen, ohne einen Präzendenzfall fürchten zu müssen, denn eine vergleichbare deutsche Schuld gibt es gegenüber keinem anderen Land.
Sie könnte das unter Hinweis auf aktuelle Hilfen in der Euro-Krise quittieren...
Ich erinnere daran, dass von den diversen krisenbedingten Hilfspaketen "für Griechenland" der geringste Teil im Lande bleibt. Das Gros wird zur Deckung der Zinsen gegenüber den ausländischen Gläubigern verwendet. Ein negatives Perpetuum mobile.
Wie sehen Sie den aktuellen Stand der Beziehungen?
Nach meinem Eindruck tut sich inzwischen einiges. Nicht nur deutsche Stiftungen kommen zurück nach Griechenland - sie hatten bald nach dem Mauerfall ihre Athener Vertretungen geschlossen und das Geld weiter östlich investiert. Offensichtlich haben die Verantwortlichen erkannt, dass man etwas tun muss. Und das ist positiv. Einzelne dieser Vertretungen werden nun von Nachkommen griechischer Gastarbeiter geleitet, ein spannendes und vielversprechendes Experiment. Auch deutsche Diplomaten fragen nach langer Zeit wieder an, was sich tun lässt.
Was raten Sie?
Von der Idee, eine deutsch-griechische Historikerkommission einzusetzen, rate ich mangels Masse ab. Es gibt auf deutscher Seite fast keine Kollegen, die mit dem Thema vertraut sind. Andererseits erkenne ich aber auch die alten Ängste in Berlin. Man will Zeichen setzen, hat aber Angst vor den Kosten. Oder wie es schon in deutsche Diplomaten in den 50er und 60er Jahren in ihren Berichten nach Bonn formulierten: „Wenn man auf den Griechen zukommt, fordert er immer mehr.“
Das ist eine typische Formulierung, wie man Ihren Veröffentlichungen zur deutsch-griechischen Nachkriegsgeschichte entnehmen kann.
Diese Nachkriegsakten – und ich habe so ziemlich alles Archivmaterial gelesen, das im 20. Jahrhundert zu Griechenland produziert wurde – haben mich oft mehr beschämt als die aus dem Krieg. Von den Akten aus Nazi-Zeiten kann man ohnehin fast nur positiv überrascht werden, wenn etwa ein Diplomat Zivilcourage und Mitgefühl für die Griechen zeigt. Aber dann liest man plötzlich schockiert in der Dienststellenkorrespondenz der demokratischen Bundesrepublik, dass hohe Beamte „Repressalien“ gegen griechische Ansprüche fordern – oder auch die „Endlösung“ oder „Liquidierung der Kriegsvergangenheit“– was immer das sein soll. Partisanen, die in andern europäischen Hauptstädten von deutschen Diplomaten auch so genannt werden, nennt man im Falle Griechenlands „kommunistische Banditen“, in konsequenter Weiterführung der NS-Besatzungsterminologie Oder man droht damit, die griechische Annäherung an Europa zu verzögern – unter Verweis darauf, der Kommissionspräsident Walter Hallstein sei Deutscher. Summa summarum: Deutschland hat sich nach 1945 mit Griechenland Dinge erlaubt, die mit andern Ländern undenkbar gewesen wären.
Versöhnung mit Deutschland?
Und griechische Medien sprechen jetzt von einer zweiten deutschen Besatzung.
Das ist natürlich Polemik. Und viele, die davon sprechen, haben – zu ihrem Glück – die Nazityrannei nicht erlebt. Aber wenn man weiß, dass etwa der General, der den Vernichtungsbefehl für Kalavryta gab, die Griechen als „Sauvolk“ von Betrügern und Faulenzern beschimpfte, dann braucht es nicht viel, sich an das Vokabular aktueller deutscher Schlagzeilen und Kommentare erinnert zu fühlen. Ganz abgesehen davon, dass das ein altes Stereotyp des Nordens gegen den Süden ist: Wenn die einen reicher sind, die andern aber das bessere Wetter haben, ist der Kurzschluss rasch gezogen: Sie sind halt Faulenzer auf unsere Kosten. Von diesen Vorurteilen gibt es viele und sie sind historisch tief verwurzelt.
Was wäre dagegen zu tun? Sie sprachen von der Notwendigkeit, das Wissen über Griechenland zu vergrößern. Die Reicheren haben schließlich auch mehr Macht als die mit dem schönen Wetter, ihre Sicht der Dinge durchzusetzen.
Ich schwanke zwischen erfahrungsbedingtem Realismus und lebenswichtigem Optimismus. Vielleicht lassen sich die moralischen Machtverhältnisse doch durch Aufklärung verändern. Es gibt sehr viel simplifizierende Heuchelei und Doppelmoral auf beiden Seiten, doch die der deutschen wiegt schwerer: Nehmen Sie die Sparauflagen: Deutschland hat jahrelang Athen zum Sparen aufgefordert, aber bitteschön erst nach dem Einkauf bei deutschen Rüstungsfirmen. Nur so wird man zum Exportweltmeister! Und wenn Siemens und andere Giganten der deutschen Industrie griechische Minister mit zwei- bis dreistelligen Millionensummen schmieren, wer ist dann korrupt? Nur die Minister? Ein weiteres Stück Doppelmoral ist dabei, dass der wichtigste Vermittler des größten Schmiergeldskandals sich der griechischen Justiz entziehen konnte. Er besitzt nämlich auch einen deutschen Pass. Von der deutschen Justiz wurde er nicht nennenswert behelligt. Wenn man da pseudo-moralisch argumentiert: „Wir im Norden sind nicht korrupt“, dann ist das Pharisäertum.
Wenn Sie, wie Sie sagen, eine deutsch-griechische Historikerkommission für sinnlos halten: Was sonst?
Ich habe eine gemeinsame Schulbuchkommission vorgeschlagen. In deutschen Schulbüchern steht rein gar nichts über die deutsche Besatzung. Wer sie liest, erfährt, dass die Deutschen – weil die italienischen Verbündeten das nicht in den Griff bekamen – 1941 in Jugoslawien und Griechenland einmarschiert sind, eine Art Task Force, und die Region 1944 oder 1945 wieder verließen. Was dazwischen passiert ist, existiert nicht.
Was erhoffen Sie sich von mehr und gemeinsamer Vergangenheitspolitik?
Was jetzt geschieht, hat eine gefährliche Sprengkraft für den europäischen Zusammenhalt, für die gemeinsame Erinnerungskultur, und stellt die Versöhnung mit Deutschland in Frage. Die am meisten europäisch gesonnenen und versöhnungsbereiten Kräfte werden geschwächt, Radikale und Populisten haben leichtes Spiel. Immer mehr Griechen fragen sich: Womit kann ich am meisten schockieren, indem ich die faschistoide „Goldene Morgenröte“ wähle oder die linke „Syriza“? Wobei natürlich ansonsten die beiden Parteien in keiner Weise gleichzusetzen sind. Letztes Jahr wurden die nationalistische Partei der „Unabhängigen Griechen" gegründet. In Distomo – warum wohl? Und sie kamen in wenigen Wochen schon auf 11 Prozent Zustimmung.
Geschichte dürfte angesichts der aktuellen Probleme Griechenlands und der EU vielen Leuten als Luxus erscheinen.
Als Historiker stört es mich, wenn Zukunftsorientierung und Bewusstsein für die Vergangenheit gegeneinander ausgespielt werden. Beides ist supplementär, beides ist notwendig. Und angesichts meiner doppelten Identität hoffe ich dazu beitragen zu können, dass das erste meiner beiden Vaterländer moralisch und historisch endlich mit dem zweiten ins Reine kommt. Doch bislang ist immer noch viel zu viel Unreines unter dem Teppich, der sich gefährlich wölbt und zur bilateralen Stolperfalle wird.
Andrea Dernbach