Größte Demokratie der Welt: Hindunationalist hat beste Chancen, Indien zu führen
Indien stimmt seit diesem Montag über eine neue Regierung ab – die besten Chancen hat der Hindunationalist Narendra Modi. Doch der ist eigentlich unwählbar.
Der Mann strotzt vor Siegessicherheit. „Von Kaschmir bis Kanyakumari“ werde die Kongresspartei in keinem Bundesstaat auf zweistellige Sitzzahlen kommen, ruft Narendra Modi den jubelnden Massen von der Bühne zu. Der 63-Jährige hat Grund, den Mund voll zu nehmen. Glaubt man Umfragen, könnte der Hindunationalist, der unter seinen Fans Kultstatus genießt, demnächst die zweitgrößte Nation der Welt regieren. In einem Wahlmarathon wählt Indien ab heute in neun Etappen eine neue Regierung. Fast 815 Millionen Menschen sollen ihre Stimme abgeben, das sind ungefähr 100 Millionen mehr als vor fünf Jahren. Die Wahlkommission und die Sicherheitskräfte, die alle 930 000 Wahllokale bewachen sollen, können das nicht an einem einzigen Tag stemmen. Deswegen wird an neun Tagen bis zum 12. Mai abgestimmt, vier Tage später soll das Ergebnis verkündet werden.
Der Kongresspartei, die seit zehn Jahren an der Macht ist, droht eine Niederlage, manche glauben gar: die schlimmste ihrer Geschichte. Jüngste Umfragen sagen Modi 217 von 543 Sitzen voraus. Die Kongresspartei von Sonia Gandhi käme nur noch auf 73 Mandate – 133 weniger als noch 2009. Nun sind Umfragen in Indien mit höchster Vorsicht zu genießen, weil das Mehrheitswahlrecht das Ergebnis kaum kalkulierbar macht. Doch die meisten Auguren rechnen mit einem Machtwechsel.
Duldete Modi Massaker an Muslimen?
BJP-Parteimitglied Modi ist seit 2001 Regierungschef von Gujarat – und eigentlich unwählbar. In seiner Amtszeit haben Hindu-Mobs im Frühjahr 2002 in Gujarat hunderte Muslime massakriert. Zwar wurde nie bewiesen, dass er etwas damit zu tun hat. Gerichte sprachen ihn frei. Doch viele glauben, dass er das Massaker stillschweigend geduldet hat. Politisch geschadet hat es ihm im Hindu-Staat Gujarat nicht. Drei Mal wurde er als Regierungschef wiedergewählt. Nun will er im Triumph auch Delhi erobern. Doch auf nationaler Bühne polarisiert er wie kein anderer. Während die einen ihm zujubeln, misstrauen ihm viele Muslime und Liberale zutiefst.
Modis größte Stärke ist die Schwäche der Kongresspartei und der Gandhi-Dynastie. Ihre letzten Jahre an der Regierung glichen einem politischen Offenbarungseid. Von Visionen und Reformen keine Spur. Stattdessen erweckte eine ganze Serie von Korruptionsskandalen den Eindruck, dass sich die Elite vor allem die eigenen Taschen stopft.
Schwache Wirtschaft, hohe Preise
Die Zeche zahlen die Armen. Die Wirtschaft schwächelt, die Preise sind explodiert. Selbst eingefleischte Kongresswähler wenden sich ab. Geschickt inszeniert sich Modi als Hoffnungsträger, als zupackender Macher. Das kommt an bei den Massen, die sich nach einem starken Mann sehnen, der die Ärmel hochkrempelt und den Karren aus dem Dreck zieht. Auch die Bosse der großen Familienkonzerne, die Ambanis, die Mittals, die Tatas, stehen hinter ihm.
Doch abschreiben sollte man die Gandhis nicht. In einem Kraftakt versuchen sie, das Blatt in letzter Minute zu wenden. In Endspurt legte Sonia Gandhi, obgleich gesundheitlich angeschlagen, noch 80 Wahlauftritte hin. Ihr Sohn Rahul, der 43-jährige Kronprinz der Dynastie, brachte es sogar auf 125. Und sie versprachen dem darbenden Volk das Blaue vom Himmel herunter. Sprich: Wohltaten in Milliardenhöhe.
Modi-Gegner sprechen von einer Schicksalswahl zwischen der ureigenen „Idee Indiens“ als säkularem Staat, in dem alle Religionen beheimatet sind, und einem aggressiven Hinduismus. Der junge, eher medienscheue Rahul wirkt allerdings blass gegen den charismatischen Modi. Er, der sich angeblich vom armen Teejungen zum Regierungschef hocharbeitete, gibt geschickt die Antithese zu den Gandhis, die wie ungekrönte Könige Indien regierten. „Wir haben alle gesehen, wie die Herrscher die Nation in den vergangenen 60 Jahren zerstört haben. Es ist Zeit, dass wir das Land von Herrschern befreien. Wir brauchen keine Herrscher in einer Demokratie“, attackiert er die Gandhis. „Wir brauchen Diener in einer Demokratie. Ich komme zu euch als Diener und nicht als Herrscher.“
Jüngere tendieren zu Modi
Modi trifft damit den Nerv vor allem junger Wähler. Indien ist zu Recht stolz auf seine Demokratie. Sie hält das Land zusammen, das mit 1,2 Milliarden mehr als doppelt so viele Einwohner zählt wie die EU – und weitaus heterogener ist. Allein ein Blick auf die Straßen reicht, um zu erahnen, welchen Fliehkräften dieses Land ausgesetzt ist. Da klopfen Kinder in Lumpen an die Fenster glitzender Nobelkarossen, gehen Frauen in Burkas neben Mädchen in Jeans, Männer mit chinesisch anmutenden Gesichtszügen aus dem Nordosten neben europäisch aussehenden Kaschmiris.
Und doch verstellt der Lobgesang den Blick darauf, dass Indiens Demokratie gefährliche Risse aufweist. Seit Jahren missbraucht die politische Klasse Indiens sie als wohlfeile Ausrede dafür, dass das autoritäre China die Armut weit schneller abbaut als Indien. Zugleich sei die Demokratie als „Fassade für eine schrittweise Kriminalisierung der Politik“ benutzt worden, meint der Indien-Kenner und Kolumnist John Elliot.
Protestpartei gegen Korruption
Auf der wachsenden Welle des Unmuts über die korrupte Elite schwimmt auch die neue Protestpartei AAP, die „Partei des kleinen Mannes“ des Aktivisten Arvind Kejriwal. In Delhi holte sie jüngst einen Überraschungssieg. Ob sie das auf bundesweiter Bühne wiederholen kann, ist eher fraglich. Auch Modi weiß, dass er eine klare Mehrheit braucht, um etwas zu bewegen. Er rief dazu auf, der von der BJP geführten Parteienallianz NDA mindestens 300 Sitze zu bescheren. „Gebt mir 300 Lotusblumen“, bat er in Anspielung auf das Parteisymbol der BJP.
Derweil sind für den bisherigen Premierminister Manmohan Singh die letzten Tage im Amtssitz 7 Race Course angebrochen. Er war immer nur ein Regierungschef von Sonia Gandhis Gnaden. Treu ergeben hat der 81-Jährige bis zuletzt das ehrbare Feigenblatt einer korrupten Koalition gespielt und dabei auch seinen eigenen einst guten Ruf kräftig lädiert.