Vizepräsidentschaftskandidat der Demokraten: Hillary Clinton wählt Tim Kaine
Der Senator von Virginia hat Expertise in der Außen- und Sicherheitspolitik, spricht Spanisch, gilt als gläubiger Katholik und dennoch als Linker. Ein Kommentar
Gibt es die eierlegende Wollmilchsau in der Politik? Sprich: den Kandidaten, der gleich mehrere Anforderungen in seinem Profil vereint? Das ist selten. Aber Tim Kaine kommt dieser Quadratur des Kreises ziemlich nahe. Deshalb hat Hillary Clinton den Senator von Virginia und Ex-Gouverneur dieses strategisch wichtigen Südstaats am Freitagabend (US-Zeit) wie erwartet zu ihrem Vizekandidaten berufen. Er hat Erfahrung in der Außen- und Sicherheitspolitik, spricht Spanisch, gilt als gläubiger Katholik und dennoch als Linker, jedenfalls als Linker in Virginia, einem der wahlentscheidenden Swing States. Sie gab die Entscheidung am Freitagabend (US-Zeit) über Email und SMS an ihre Anhänger bekannt.
Am Sonnabend will Clinton mit Kaine in Florida auftreten
Am Sonnabend will sie mit Tim Kaine bereits gemeinsam im Wahlkampf in Florida auftreten, um die öffentliche Aufmerksamkeit nach dem Ende des republikanischen Parteitags zu den Demokraten zu lenken. Am Montag beginnt die Convention der Demokraten in Philadelphia, Pennsylvania, bei der Clinton als Präsidentschaftskandidatin und Kaine als ihr Vize nominiert werden sollen.
Kaine verkörpert die regionalen Eigenheiten und Widersprüche der amerikanischen Parteipolitik wie kaum ein anderer. Der 58-Jährige stammt aus St. Paul, Minnesota, und wuchs in Kansas City, Missouri auf. Im Mittleren Westen ist der Pragmatismus meist stärker als die ideologische Orientierung. Nach dem Jura-Studium in Harvard und der Heirat mit Anne Bright Holton, der Tochter eines ehemaligen republikanischen Gouverneurs von Virginia, zog er nach Richmond und praktizierte in der ehemaligen Hauptstadt der Südstaaten als Anwalt. Dabei fanden Fragen des Wohnungsrechts und der Bürgerrechte der Afroamerikaner sein besonderes Interesse. Während des Studiums hatte er ein Jahr in der Entwicklungshilfe in Honduras gearbeitet und fließend Spanisch gelernt.
Ein Demokrat, der einen Südstaat erobert
In Richmond wurde er 1994 Stadtrat, 1994 Bürgermeister und stieg wenig später in der Landespolitik auf. Die damalige Kandidatin für den Vize-Gouverneursposten wurde mit Krebs diagnostiziert. Kaine sprang für sie 2002 ein. 2006 wurde er selbst Gouverneur - als Demokrat.
Wenige Jahre zuvor wäre das noch schwerlich denkbar gewesen. Die Republikaner dominierten den Südstaat seit Ende der 1960er Jahre. Die Bürgerrechtsgesetzgebung zu Gunsten der Afroamerikaner hatte die ehemaligen Sklavenstaaten, die nach dem Bürgerkrieg und der Sklavenbefreiung ein Jahrhundert lang verlässlich demokratisch gewählt hatten, nun zu ebenso verlässlich republikanisch wählenden Staaten gemacht. Das galt für gut drei Jahrzehnte.
Dann aber verstärkte sich der Zuzug Hunderttausender in den Großraum um die Hauptstadt Washington DC. Viele von ihnen bauten und kauften Häuser in den Suburbs auf der Südseite des Potomac. Das hatte zur Folge, dass der Nordzipfel Virginias immer dichter besiedelt wurde und bald ein progressives Gegengewicht zu der nach wie vor erzkonservativen Landeshauptstadt Richmond im Süden bildete.
In den Präsidentschaftswahlen hatte George W. Bush Virginia noch 2000 und 2004 gewonnen. 2008 und 2012 siegte dort Barack Obama. Und wenn Clinton in Virginia 2016 erneut siegreich ist, wird es für den republikanischen Kandidaten Donald Trump sehr schwer, eine Kombination von US-Bundesstaaten zu gewinnen, die ihn über die Hürde von 270 Wahlmännerstimmen hebt, die für den Einzug ins Weiße Haus nötig sind.
Durchsetzen, was möglich ist
Tim Kaine soll Clinton aber nicht nur helfen, Virginia zu gewinnen. Er ist auch Mitglied im außenpolitischen Ausschuss des Senats. Nach den Terroranschlägen in Europa ist sicherheits- und außenpolitische Kompetenz wichtiger geworden. Zuvor hatten Clintons Berater erwogen, ob sie einen Vize braucht, der die Parteilinke anspricht, damit die Anhänger ihres Konkurrenten Bernie Sanders nun sie unterstützen, zum Beispiel Elisabeth Warren. Oder ob ein Latino ihr Vize werden solle, etwa Arbeitsminister Tom Perez. Als größte Minderheit in den USA sind die Einwanderer aus Lateinamerika wahlentscheidend.
Doch Kaine deckt beide Anforderungen mit ab. Auch er steht im Zweifel links in der Partei. Nicht so links wie Bernie Sanders oder Elisabeth Warren. Aber deutlich links von der Mitte in "Swing States" wie Virginia, Pennsylvania, Ohio, Colorado, die mal republikanisch, mal demokratisch wählen, zuletzt meist demokratisch. Im Konfliktfall geht er zwar nicht mit dem Kopf durch die Wand. Als Katholik lehnt er, zum Beispiel, die Todesstrafe ab. Als Gouverneur von Virginia ließ er Exekutionen dennoch zu, ließ die Öffentlichkeit aber wissen, dass er das nur wegen seines Amtseid tue und tun müsse. Nach der Schießerei an der Virginia Tech 2007 mit 32 Toten unternahm er nicht den aussichtslosen Versuch, das Waffenrecht in einem Staat einzuschränken, der mehrheitlich "pro gun" ist. Er nutzte den Anlass, um die Hilfsprograme für psychisch Kranke, die gewalttätig werden, auszuweiten.
Eine Rede im US-Senat - ganz auf Spanisch
Für die Latinos ist er ein glaubwürdiger Verfechter der Reform des Einwanderungsrechts. 2013 hielt er im Senat eine Rede zur Unterstützungen eines überparteilichen Gesetzentwurfs ganz auf Spanisch.
Deshalb gilt Clintons Entscheidung für Kaine als Vize nicht als Prioritätensetzung zwischen unterschiedlichen Interessen, nicht als Festlegung für einen Repräsentanten der Sicherheitspolitik zu Lasten der Latinos oder der Parteilinken. Sondern als Wahl, bei der sie mehrere Ziele auf einmal erreicht. Dazu gehört die Überlegung, dass Tim Kaine im Fernsehduell der Vizepräsidentschaftskandidaten am 4. Oktober Trumps Vize Mike Pence Paroli bieten kann. Pence und Kaine führen die politische Auseinandersetzung eher wie Gentlemen. Und nicht unterhalb der Gürtellinie wie Trump.