Karlsruhe verhandelt über das Betreuungsgeld: Herd und Wert - und was der Bund damit zu tun hat
In Karlsruhe wird verhandelt, ob der Bund das Betreuungsgeld einführen durfte. Welche Chancen hat die Klage? Ein Überlick.
Vor einigen Jahren war das Betreuungsgeld, von Kritikern als „Herdprämie“ geschmäht, eines der meist umstrittenen gesellschaftspolitischen Themen. Jetzt muss das Bundesverfassungsgericht entscheiden: Ist das 2013 beschlossene Gesetz verfassungswidrig? Darüber haben die Karlsruher Richter am Dienstag verhandelt. Ein Urteil wird nicht vor Sommer erwartet.
Wer bekommt Betreuungsgeld?
Es handelt sich um eine Sozialleistung von 150 Euro für Eltern von Kleinkindern. Nehmen die Eltern in deren ersten Lebensjahren keinen mit öffentlichen Mitteln geförderten Betreuungsplatz in Anspruch, steht ihnen das Geld zu. Sie können damit machen, was sie möchten, etwa auch ihr Kind in eine private Einrichtung geben. Hartz-IV-Empfänger bekommen den Betrag ebenfalls, sie müssen ihn jedoch auf ihre sonstigen Bezüge anrechnen lassen. Unterm Strich hilft er ihnen deshalb nicht. Insgesamt kostet den Bund die Unterstützung rund 900 Millionen jährlich. Rund 400 000 Eltern bekommen die Leitungen ausgezahlt, in 95 Prozent der Fälle Frauen. Das Geld soll auch ein Gegenwert dafür sein, dass der Staat den 2008 beschlossenen Kita-Ausbau mit Milliardensummen fördert.
Warum klagt Hamburg dagegen?
Der Hamburger Senat hat eine so genannte abstrakte Normenkontrolle angestrengt. Dabei prüft das Gericht, ob bei einem Gesetz Grundrechte oder sonstige Verfassungsvorschriften eingehalten werden, auch wenn der Kläger nicht direkt betroffen ist. Hamburgs Bürgermeister Olaf Scholz, der für seine SPD vor Jahren einmal angekündigt hat, in der Familienpolitik „die Lufthoheit über den Kinderbetten“ erobern zu wollen, ist, wie viele Sozialdemokraten, ein erklärter Gegner der Betreuungsgelds.
Welche Rolle spielt die Bundesregierung?
Sie ist zwar nicht direkt Beklagte des Verfahrens, das sich ja gegen ein vom Bundestag beschlossenen Gesetz richtet, als Initiatorin aber hat sie es zu verteidigen. Dies bringt Familienministerin Manuela Schwesig (SPD) in eine ungewöhnliche Situation. Sie ist ebenfalls eine scharfe Kritikerin des unter ihrer Vorgängerin Kristina Schröder (CDU) verabschiedeten Vorhabens. Als Teil der Exekutive muss sie es dennoch verteidigen. Dies entspricht dem Koalitionsvertrag, der die Familienleistung nicht in Frage stellt.
Was kritisiert der Hamburger Senat?
Der Sozialsenator des Stadtstaats, Detlef Scheele, wirft der Regierung vor, den Kita-Ausbau und die damit erwünschte frühkindliche Förderung zu hintertreiben. Er sprach vom Konzept der Hansestadt, mit dem heute fast 80 Prozent der Zwei- und Dreijährigen betreut würden. „Bei unseren Bemühungen fährt uns das Betreuungsgeld in die Parade“, sagte er am Dienstag in der Verhandlung. Das Geld sei „eine Belohnung, Kinder fernzuhalten“. Er erwähnte auch den Fall des misshandelten Kindes Yagmur und betonte den Wert der Kita-Erziehung insbesondere für ärmere Familien und Migrantenkinder.
Wie begründet Hamburg die Klage?
Die Hamburger Juraprofessorin und Klägervertreterin Margarete Schuler-Harms rügt, der Bund greife „tief in die Befugnisse der Länder ein“. Er habe die Grenzen seiner Gesetzgebungskompetenz überschritten. Zudem verstoße das Geld als Gratifikation für ein Aufwachsen außerhalb öffentlich geförderter Einrichtungen gegen die grundgesetzlich geforderte Gleichbehandlung. Der Staat verhalte sich damit nicht neutral, sondern prämiere ein Erziehungsmodell, das Frauen gravierend benachteilige.
Wie verteidigt sich die Bundesregierung?
Die ambivalente Rolle der Familienministerin setzt sich in der Person ihres Staatssekretärs Ralf Kleindiek fort, der Schwesig in Karlsruhe vertrat. Kleindiek war früher Büroleiter von Bundesjustizministerin Brigitte Zypries (SPD) und wurde 2011 von Olaf Scholz als Staatsrat in die Hamburger Justizbehörde geholt. Die juristischen Bedenken gegen das Betreuungsgeldgesetz kennt er also gut – er hatte sie selbst. Doch von gestandenen Juristen, zu denen auch der SPD-Mann zählt, wird erwartet, dass sie gegensätzliche Interessen mit jeweils guten Argumenten verteidigen können. So sprach Kleindiek davon, es gehe darum, einen „erfolgreichen Weg fortzusetzen“ und „die Handlungsfähigkeit des Bundes in der Familienpolitik zu erhalten“. Das Geld sei kein Bonus für die Nichtinanspruchnahme staatlicher Leistungen, sondern „vervollständigt ein Unterstützungsangebot“.
Nach welchen Kriterien entscheiden die Richter?
Der Vizepräsident des Gerichts und Vorsitzende des Ersten Senats Ferdinand Kirchhof sieht „etliche staatsorganisationsrechtliche und grundrechtliche Fragen“. Es geht um einen Fall der so genannten konkurrierenden Gesetzgebung, in der sowohl Bund wie Länder prinzipiell befugt sind, Gesetze zu erlassen. Der Streit beginnt allerdings schon, ob es sich um „öffentliche Fürsorge“ und damit tatsächlich um einen Gegenstand der konkurrierenden Gesetzgebung handelt. Zu klären ist nach Ansicht Kirchhofs weiter, ob das Gesetz „zur Herstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse im Bundesgebiet“ erforderlich ist, wie es das Grundgesetz für ein Tätigwerden des Bundes verlangt. Schließlich gehe es auch darum, „ob die freie Rollenverteilung zwischen Männern und Frauen bei der Kinderbetreuung“ beeinträchtigt sei.
Wie sind die Chancen der Kläger?
Die Gleichheitsfragen hat der Senat nur am Rande erörtert, ein Zeichen, dass das Gesetz hieran kaum scheitern dürfte. Die Richter deuteten auch an, die Leistung als einen Fall öffentlicher Fürsorge einzustufen, die ja nicht nur auf individuelle Notsituationen zugeschnitten sei, sondern auf „typisierte Bedarfe“, wie der Vorsitzende Kirchhof sagte. Große, womöglich durchgreifende Zweifel haben die Richter jedoch mit Blick auf das Erfordernis der „gleichwertigen Lebensverhältnisse“, die der Bund mit dem Gesetz bezwecken müsse. Zwar hatten sie in ihrem Urteil zur Erbschaftsteuer hier eine Öffnung zugunsten des Bundes angedeutet. Die müsse für den vorliegenden Fall aber nichts bedeuten, hieß es. „So viele Anhaltspunkte, das locker zu sehen, haben wir nicht“, sagte die für die spätere Abfassung des Urteils zuständige Richterin Gabriele Britz.
Zudem sei der Bereich der öffentlichen Fürsorge bei der Föderalismusreform 2006 in der konkurrierenden Gesetzgebung verblieben, obwohl sonst etlichen Kompetenzen dem Bund zugesprochen worden seien. Die Regierung hielt dem nur das "Gesamtkonzept" entgegen, wonach Kita-Ausbau und Betreuungsgeld nun einmal zusammengehörten.
Was passiert, wenn die Richter das Gesetz kippen?
Gibt es keine Übergangsregelung, würde das den Wegfall der Leistung für Hunderttausende bedeuten. Zwar ist oft nur von einer symbolischen Anerkennung die Rede, tatsächlich jedoch sind 150 Euro im Monat durchaus auch für Mittelschichtsfamilien eine Summe, mit der sich zu rechnen lohnt. Das sehen wohl auch die Hamburger Kläger so, die ankündigten, sich gegen eine Übergangsregelung nicht sperren zu wollen. Klägervertreterin Schuler-Harms erklärte sogar, es seien als dauerhafter Ersatz auch "andere finanzielle Leistungen" denkbar.
Jost Müller-Neuhof