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Herbert Fritsch probt mit Günter Papendell als Don Giovanni in der Komischen Oper Berlin.
© Monika Rittershaus

Komische Oper Berlin: Herbert Fritsch inszeniert Don Giovanni

Zwischen Dada und Gaga und genialischem Abgrund. So bezaubert der Extremregisseur Herbert Fritsch sein Publikum. Nun inszeniert er an der Komischen Oper „Don Giovanni“. Eine Operation am offenen Künstlerherzen.

Eine Theater- oder Opernprobe gut vier Wochen vor der Premiere zeigt auch die schönste Kunst noch im Naturzustand. Wachse und werde! Wenn aber Herbert Fritsch am Inszenieren ist, gerät schon mal das erste Sprießen zum Ausnahmezustand.

Fritsch-Aufführungen wie „Die (s)panische Fliege“, „Murmel, Murmel“ oder die Opern-Travestie „Ohne Titel Nr. 1“ wirken an der Berliner Volksbühne als Magneten. Es sind hochartistische, amüsante Gesamtkunstwerke – zwischen Dada und Gaga, zwischen genialischem Abgrund und verwegenster Untiefe. Doch weit über die Hauptstadt hinaus ist der ehemalige Schauspieler Herbert Fritsch in den vergangenen Jahren als Regisseur und Erfinder surrealer Bühnenbilder – mit Riesensofas und sportplatzgroßen Traumteppichen – zum gerade meistgefeierten Inszenator der deutschsprachigen Szene geworden. Und weil Musik und Choreografie seine treibenden Kräfte sind, reißen sich inzwischen auch Opernhäuser um ihn. Da freilich steht ihm in Berlin eine der olympischen Gipfelbesteigungen des Musiktheaters bevor: Fritschs Version von Mozarts „Don Giovanni“ hat diesen Sonntag an der Komischen Oper Premiere.

Aber drehen wir die Uhr und tausend Einfälle noch mal um einen Monat zurück. Es ist 11 Uhr montagmorgens. Fritsch, ein liebenswürdiger, sich bei gegenseitigem Vertrauen umstandslos und uneitel selbstbewusst öffnender Mann, lässt sich ausnahmsweise in die Karten gucken. Also nimmt der als stiller Beobachter zugelassene Gast auf der Probenbühne 1 der Komischen Oper an einem wackligen Holztisch am Rande Platz. Die Szenerie hier hat zwar die Maße der wirklichen Bühne, doch davor bleiben gerade drei Meter zwischen Rampe und Wand. Aufgereiht in der ersten Reihe sitzen der Regisseur, Assistentinnen und Assistenten, die Dramaturgin und Neuübersetzerin des Librettos Sabrina Zwach, der musikalische Studienleiter Henning Kussel am Klavier, daneben und dahinter noch Hospitanten, Inspizienten und Kevin Foster, der Fechtmeister („Fightkoordinator“).

Im Rücken des Regisseurs steht das kleine Modell seines wie immer selbst entworfenen Bühnenbildes, und Fritschs Kostümbildnerin Victoria Behr hat an einer Bretterwand, hinter der sich die Sänger unisexweise auch mal kurz umziehen, Farbkopien ihrer goyahaften Gewänder und Gesichtsmasken angepinnt. Zwischen Kleiderhaufen, Rucksäcken, Hilfsrequisiten tummeln sich Teile des Ensembles. Alle noch nicht im Kostüm, nur in Fundusfummeln, Andeutungswäsche, eher leicht bekleidet. Eine Probenbühne ist auch ein Trainingscamp.

Eben noch hat sich Günter Papendell als Don Giovanni einen der beiden abgestumpften Degen gegriffen, die auf dem Tisch des gastweisen Beobachters liegen, nebst zwei theaterblutkrustig abgeschlagenen Händen, einer Pistole und ein paar schwarzen Kirchengesangbüchern. Nun klatscht jemand in die Hände, am Klavier die ersten Takte, heute beginnt die Probe mit dem Ende des ersten Aktes. Auftritt die junge Dorfbraut Zerlina, ihr Bräutigam Masetto und Don Giovanni, der auf Zerlina schon sein Auge geworfen hat. Es geht um ein verwirrtes Mädchenherz, einen geilen Täuscher und einen machtlos Naiven. Wie der Herzschlag stolpert und die Fäden der Intrige sich verwirren, so sollen die drei, von Giovanni behext, betört, verführt, schnell übereinander straucheln. Musik und Motive übersetzt in Motorik, in vehemente Körpersprache.

Es ist unser erster Besuch bei den vor knapp drei Wochen begonnenen Proben. Am Klavier erklingen gerade ein paar Takte, die Souffleuse neben uns wispert zwei Worte, die Sänger haben kaum Luft geholt und eben zum Spielen und Singen angesetzt, da springt Herbert Fritsch schon auf: „Alles falsch!“

Das wirkt wie eine Pointe – erinnernd an den Witz vom Großkritiker in einer Premiere, der Vorhang öffnet sich, und der Kritiker seufzt: „Schon falsch.“

Die Renaissance der Commedia dell'arte

Nicole Chevvalier als Donna Elvira
Nicole Chevvalier als Donna Elvira
© Jens Kalaene/dpa

Was beim Kritiker dann folgt, mag schlimmstenfalls Mord und Totschlag bedeuten. Bei Herbert Fitsch wird es jedenfalls: eine Liebeserklärung. An das Theater, an die Oper, an seine Sänger und Spieler. Alles falsch, darum wachst und werdet! Play it again, Sam! Oder auch das: Scheitern, wieder scheitern, besser scheitern (sagte Samuel Beckett). Der 63-jährige Herbert Fritsch, fast schon auf dem Gipfel seiner sagenhaften Jungregisseurskarriere, arbeitet bei bester Laune auch an offenen Künstlerherzen und in leicht verletzlichen Sängerseelen. In frühen Probenstadien unterbricht er ständig, ist in winzigen szenischen Details penibel bis zur Penetranz, so feilt er an einer Sekundennummer durchaus mal eine Stunde lang. Das Feilen freilich soll für Fritsch die Gitterstäbe eines Gefängnisses öffnen, in das man die Schauspieler und Sänger auf deutschen Bühnen nur allzu lang eingesperrt habe.

„Ich sehe überall Konzepttheater. Zugunsten von Konzepten hat man den Schauspielern ihre ganze Wildheit, Kühnheit und Brillanz ausgetrieben!“, ruft Herbert Fritsch aus, als wir in einer Probenpause ins nahe „Café Einstein“ Unter den Linden wechseln. Bei Frank Castorf, zu dessen Volksbühnenensemble er bis 2007 gehört hat, sei trotz aller Dekonstruktion von Stücken und Stilen noch der „Sinn für Schauspieler“ spürbar gewesen. Auch er habe dort große Freiheiten gehabt, sich in seinen Rollen eigene Geschichten und Gesten zu erfinden. Aber bei den vielen Regisseuren, die leider nur Epigonen Castorfs seien, sehe er „Arroganz und Selbstgefälligkeit“ – gegenüber Autoren, Akteuren und Zuschauern. Fritsch aber will sie alle gewinnen. Will die Spieler und Sänger entfesseln und das Publikum in möglichst jeder Sekunde entzücken und, ja, wie große Kinder bezaubern.

Sein Traum vom Theater ist die Wiedererweckung der Commedia dell’Arte, der gebärdenreichen, dem Karneval und Volkstheater entwachsenen Manier der totalen Komödie. Mit grellen Masken, grotesken Kostümen, furioser Mimik und tatsächlich entfesselten Gliedern, von der tanzenden Zehe bis zur schlängelnden Zungenspitze.

Aber läuft das auch mit dem „Don Giovanni“? Mozarts Oper vom „Bestraften Wüstling“ (so der Untertitel) handelt von Lust und Lüge, es ist auch ein Nachtstück voll Mord, Betrug und schlussendlicher Höllenfahrt des Titelhelden. Nichts als Kabale und Triebe. Eros und Tod.

Herbert Fritsch antwortet mit einer Gegenfrage: „Muss man das Ernste immer nur ernst zeigen?“ Das kommt ihm triefsinnig vor, so witzlos wie die Unterscheidung zwischen E- und U-Kultur. Die Don-Juan-Geschichte sei vom Dichter (und Musiker) E. T. A. Hoffmann bis zum Philosophen Sören Kierkegaard in einen Mantel der romantischen Schwermut gehüllt worden, was auch den heutigen Aufführungen meist noch anhafte. Mozart und sein italienischer Librettist Lorenzo Da Ponte aber hatten ihr Stück ausdrücklich als „dramma giocoso“ bezeichnet. Als „lustiges Drama“.

Bei diesem Stichwort ist Fritsch in seinem Element: „Das Beglückendste ist, dass ich den Swing, den Slapstick, die Komik Takt für Takt auch in Mozarts Musik gefunden habe.“ Komödiantisches stecke eben nicht nur in der unmittelbar aus der Commedia dell’Arte erborgten Figur des Dieners Leporello, der seinen Don, wie Mozarts musikalischer Bote, immer wieder konterkariert. Ja, konterkarikiert.

Fritsch will eine eigene Kunstwirklichkeit erzeugen

„Alles falsch!“ Der einleitende Fritsch-Ausruf gilt allem, was er an konventioneller Verstellung oder verzagtem „Naturalismus“ am Theater verabscheut. Er will eine eigene Kunstwirklichkeit, die formal sehr artifiziell wirkt, also den „kleinlichen Fernsehjedermannrealismus“ explodieren lässt, aber die innere Situation scharf auf die Spitze treibt. Also stürzt der sehr schlanke, weißhäuptige Herr Fritsch auch auf späteren Proben immer wieder auf die Bühne, fährt zwischen seine Akteure, im langärmligen Hemd, dezent karierter Hose und Lederschuhwerk mit Gummisohle (keine theaterüblichen Jeans oder Turnschuhe!). Und er spielt vor. Knickt in den Beinen leicht ein, das ist die fritschtypische Groucho-Marx-Anschleichhaltung, wird zum federnden Boxer, zum zeitlupenhaften Schreckgespenst, zum trunkenen Tölpel oder lauernden Täter. Fritsch malt Liebesschwüre oder Mordgelüste in die dünne Luft zwischen Regisseur und Sängern, spielt ihnen vor – ohne zu singen. „Das könnt ihr besser!“ Aber seine Kostprobe ist voll Musik.

Ausnahmezustand. Dieser Regisseur, der nie schreit und unermüdlich ermuntert, zum Wagnis aufruft nach dem Motto, was gar nicht geht, können wir immer noch ändern, er schüchtert nicht ein. Sondern regt an. Was die Sänger/innen in diesem wirklichen Musiktheater ganz unprimadonnenhaft aufnehmen: ob Günter Papendell in der Titelrolle oder Erika Roos und Nicole Chevalier als Giovannis Geliebte Donna Anna und Elvira, ob Alma Sadé als Zerlina oder der wie immer fabelhaft komödiantische riesenhafte Bass Jens Larsen als Leporello. Larsen hat auch mal eigene Vorschläge, Fritsch wehrt belustigt ab: „Keine Einmischung in die Regie!“ Als Larsen dann einen weiteren Anlauf macht, meint Fritsch: „Okay, gekauft, ich zahle 10 Cent pro Einfall!“ So viel durchweg gute Laune gibt’s nicht so häufig in unseren ehrgeizig ernsten Theatertempeln.

Fritschs Autorität rührt her aus seiner überaus plastischen szenischen Vorstellungskraft. Aus seinem Sinn für Rhythmus, Timing und ausgezirkelte „Geometrie“. Das Wort mag er lieber als „Choreografie“. Die eigene mimische Virtuosität mischt sich in den Proben dabei mit Eloquenz und Bildhaftigkeit. Keimt beim betrogenen Bräutigam der erste Argwohn gegenüber Don Giovanni auf, dann ruft Fritsch: „Expression, die Eifersuchtskringel!“, und er markiert mit rotierenden Wirbelfingern die comichaft wilden Augenpaare auf Edvard Munchs einschlägigen Gemälden.

Wenn es zwischen Don Giovanni und Leporello heißt, es rieche nach Frauenfleisch, dann „bitte nicht wie ein Mäuschen wittern!“. Noch der letzte Zuschauer im Rang müsse merken, dass hier der Tiger zum Sprung ansetze. Vieles ist schon bei Mozart/Da Ponte der schiere Gruseleffekt. Geisterbahn. Darum zitiert Fritsch gerne Gebärden aus den von ihm geliebten Stummfilmen, von „Nosferatu“ bis zum „Doktor Caligari“.

Günter Papendells Don Giovanni ist eher zierlich und kiebig, auch unter blonder Perücke, mit roten Lippen und im knallbunten Beinkleid eines Toreros kein feudaler Supermacho oder Edelswinger, eher ein koboldiger Dämon. Kasperl und Teufel. Jagger und Joker – die Figur aus „Batman“ spielt mit eine Rolle. Und als manischer Betrüger ist der Don womöglich auch ein Aufschneider. Leporello zieht bei seiner berühmten „Registerarie“ die Liste der Liebschaften, die Giovanni in ganz Europa gehabt habe, hier nicht hervor. Er behauptet sie nur, und die mehr als tausend Frauen sind auch in den Augen der darüber zunächst empörten Donna Elvira womöglich nur Potenzprotzerei oder Leporellos eigene Wunschfantasie – möchte der Diener doch selber mal Herr und Macho sein.

Seit 30 Jahren ein Theatertier

Günter Papendell als Don Giovanni und Alma Sade als Zerlina
Günter Papendell als Don Giovanni und Alma Sade als Zerlina
© dpa

Die schiere Behauptung, hier dramaturgisch klug gesetzt, gehört mit zum Spaß. Fritsch lässt auf seinem allein von bewegten Mantillas, von spanischen Spitzenvorhängen bestimmten Bühnenbild gerne auch Nachtszenen bei Licht ablaufen. „Das Dunkel soll gespielt werden“, wünscht er sich, nicht äußere Elektrizität, sondern die innere Energie möge bei den Sinnestäuschungen das wahre, witzigere Theater ergeben. Peter Brook hatte es um 1970 in London vorgemacht, als er Shakespeares „Sommernachtstraum“ in einer epochalen Aufführung erstmals in steter gleißender Helligkeit spielen ließ.

Brook war großes Welttheater. Komische Oper, das soll für Fritsch erst mal reichen, im Namen des Hauses. Mit dem ungarischen Dirigenten und Generalmusikdirektor Henrik Nánási hat er sich sogar auf einen überraschenden, hier noch nicht zu verratenden Griff in die Partitur verständigt. Intendant Barrie Kosky, der die Komische Oper seit zwei Jahren mit Monteverdi so erfolgreich rockt wie mit Offenbachs „Schöner Helena“, Paul Abrahams jazzigem „Ball im Savoy“ oder Bernsteins „West Side Story“, Kosky hat bei der ersten Hauptprobe schon sehr lachen müssen. Er stärkt Fritsch den Rücken. Ihm, den viele Kollegen, Kritiker, Zuschauer so lange für einen – ja: „Faxenmacher“ gehalten haben. Das Wort sagt er selbst.

Wird Herbert Fritsch der Nachfolger Frank Castorfs an der Volksbühne?

Geboren 1951 in Augsburg, noch heute ein bayernschwäbischer Unterton. Nachkrieg, Familie eher schwierig, kein Abitur, One-Man-Show in Kellertheatern, Drogen, ein Jahr Schauspielschule in München, Autodidakt als technischer Zeichner mit heute eigenem Software-Patent, engagiert an den Münchner Kammerspielen, dann sogenannte Provinz, vor 30 Jahren in Heidelberg als Junker Bleichenwang in Shakespeares „Was ihr wollt“ (Regie Jossi Wieler, jetzt Opernintendant in Stuttgart) der Durchbruch: ein frenetisch komisches, spinnenbeiniges Unglücksgespenst. Später, bei Castorf und Schlingensief, oft in oder ohne Unterhose, am Münchner Residenztheater 1989 die virtuose minutenlange Scheinonanie in Frauenkleidern in Castorfs Version von Lessings „Miss Sara Sampson“ (Publikumsskandal bei der Premiere und auch beim Berliner Theatertreffen); unvergesslich die Boa Constrictor zwischen seinen Beinen in der legendären „Pension Schöller“ zusammen mit Henry Hübchen an der Volksbühne. Fritschs multimediales „Hamlet X“-Projekt, ein Film 2008 heißt „Das Fremde in mir“, da ist er schon auf dem Abflug in die Regie. Kommt über Luzern, Halle, Oberhausen, Schwerin ab 2010 in die großen Häuser, von Hamburg bis Zürich, München und Berlin. Einladungen zum Theatertreffen.

Ein Extremschauspieler. Jetzt Erfolgsregisseur, mit unverwechselbarer Handschrift. „Ich war immer ein Einzelgänger, aber mittlerweile schaut’s so aus, als sei ich im Theater doch irgendwie angekommen“, meint Fritsch. Wie selbst überrascht. Wird er nun irgendwann Frank Castorfs Nachfolger an der Volksbühne? „Dazu sage ich bitte nichts.“ Nur in seinen Augen ist ein Glitzern.

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