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Pilger warten auf dem Petersplatz auf die Heiligsprechung von Johannes Paul II. (links) und Johannes XXIII.
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Johannes Paul II. und Johannes XXIII.: Heilige unter den Päpsten

„Viva il Papa“, rufen sie auf dem Petersplatz. Vielleicht meinen sie gleich alle vier, die hier am Sonntag gefeiert werden. Den emeritierten Benedikt, Johannes Paul II. und Johannes XXIII. Und Franziskus, der die Heiligsprechung der beiden dazu nutzt, seine Bischöfe zu mahnen.

Sie strecken sich und schwenken Fahnen, sie stemmen sich auf die Schultern anderer, um besser sehen zu können, sie recken die Fotoapparate in die Höhe, sie klatschen, sie jubeln. „Viva il Papa!“, rufen die Menschen auf dem Petersplatz in Rom wieder und wieder. „Hoch lebe der Papst!“ Aber welchen meinen sie?

Papa Francesco vielleicht, der sich da gerade im Papamobil den Weg durch die Menschenmassen zu bahnen versucht? Oder den anderen, Benedikt XVI.? Den haben sie zuvor schon mit rauschendem Applaus gefeiert, als er, der doch nach seinem Rücktritt „der Welt verborgen bleiben“ wollte, unter den gut 150 Kardinälen auf dem Petersplatz und formatfüllend auf allen Großbildschirmen auftauchte. „Viva il Papa!“ Vielleicht meinen sie ja auch die beiden, deretwegen sie hergekommen sind: Johannes Paul II. und Johannes XXIII., die am Sonntag in einem historisch einzigartigen Doppelakt heiliggesprochen werden.

Vier Päpste werden hier auf einmal gefeiert – schon das ist spektakulär. Und während die römischen Wohnviertel wie ausgestorben wirken, wogt das Zentrum vor Kirchentagsatmosphäre. Schon am Tag vor dem großen Fest sind die Pilger- und Fangruppen durch die Stadt gezogen, mit Rucksäcken und Isomatten und den Flaggen ihrer Herkunftsländer. Aus Costa Rica, Litauen, China und Australien, von überall sind sie nach Italien gereist. Eine Million Menschen, schätzt die Polizei. Italienische Nonnen in Taubenblau und mexikanische Jungpriester mit lässig offenen Klerikerkragen lieferten sich vor dem Petersplatz fröhliche Singduelle.

Die Gebetsnacht, für die von Samstag auf Sonntag nahezu alle Innenstadtkirchen offen standen, verband sich mit Gemeinschaftstänzen auf der Piazza Navona und in der Nachbarschaft. Ordentliche Übernachtungsmöglichkeiten gab es ohnehin zu wenige: Tausende verbrachten die Nacht am Tiberufer, im Schlafsack oder unter Thermo-Folien. Am Sonntagmorgen aber sind die ungemütlichen Stunden vergessen.

Ein strenger Ritus

„Gebe der Herr, dass wir bei einem solch bedeutsamen Werk keinen Irrtum begehen“, sagt Papst Franziskus vor den Gläubigen auf dem vollen Petersplatz. Es gehört zum Ritus. Dreimal muss Kardinal Angelo Amato, der Chef der vatikanischen Heiligenkongregation, das Kirchenoberhaupt bitten, „die beiden Seligen Johannes XXIII. und Johannes Paul II. in das Verzeichnis der Heiligen eintragen und von allen Christen verehren zu lassen“. Zweimal muss der Papst zögern. Erst beim dritten Mal darf er „nach langer Überlegung, mehrfacher Bitte um göttliche Hilfe und gestützt von der Meinung unserer Brüder Bischöfe“ die Heiligsprechung vornehmen – „zur Ehre der Heiligen Dreifaltigkeit, zum Lobpreis des katholischen Glaubens und zur Mehrung des christlichen Lebens“.

Franziskus liest die lateinische Formel in sachlicher Kühle ab, doch noch bevor er fertig ist, brandet Jubel auf. Auf dem Petersplatz und davor, wo sich 500 000 Pilger drängen, macht sich jetzt auch die gewaltige polnische Mehrheit bemerkbar. Für Karol Wojtyla alias Johannes Paul II. werden die weiß-roten Nationalfahnen geschwenkt wie in einem Fußballstadion. Erstmals tragen die allgegenwärtigen Fernsehkameras die Szenen nicht nur in Hochauflösung, sondern sogar per 3-D-Format in alle Welt: Begeisterung zum Anfassen, Papst-Festival hautnah – aus einem inszenierungsfreundlichen Vatikan, der vor kurzem die neuen technischen Möglichkeiten zur Übermittlung machtvoller Bilder erkannt hat.

Es ist, ganz ohne Inszenierung, ein perfektes Bild, dass genau in dem Augenblick, in dem Papst Franziskus die rituelle Formel über die neuen Heiligen spricht, die gewitterschweren Wolken über Rom aufreißen und zum ersten Mal an diesem Tag die Sonne durchdringt.

Keine Rede von Wunder- oder Mirakelfrömmigkeit

In Franziskus’ kurzer Predigt zur Heiligsprechung ist keine Rede von Wunder- oder Mirakelfrömmigkeit, keine Verklärung von Personen. Franziskus spricht vom auferstandenen Herrn, aber von einem, der die Wunden seiner Kreuzigung weiterhin und bleibend am Leib trägt. Er verlangt, dass sich die Kirche „diesem Ärgernis“ stellt: dem, was Menschen an anderen anrichten, und dem Leiden, das sie selbst zu tragen haben. So wie die beiden heiliggesprochenen Päpste, „die in jedem leidenden Menschen Jesus sahen“.

Das offizielle Logo der Heiligsprechung bildet beide Päpste im Profil ab, die Gesichtszüge so kantig herausgearbeitet, als sei es nötig, die Stärke ihrer Persönlichkeiten zu betonen. Der ältere, Johannes XXIII., trägt da noch die dreifache Krone, die den Papst – ganz mittelalterlich – als „Vater der Fürsten und Könige, Lenker der Welt und Stellvertreter Christi“ kennzeichnet; dabei ist doch ausgerechnet dieser Kirchenführer als mild, als demütig, als „der Gute“ in Erinnerung. Der jüngere hingegen, Johannes Paul II., ist mit der Mitra eines normalen Bischofs abgebildet. Dabei hat doch alle Welt – buchstäblich, bei seinen Reisen bis in die letzten Ecken des Globus – festgestellt, wie sehr genau dieser Papst das Bischofsamt zugespitzt hat auf seine Person, auf machtvolle Alleinlenkung aus dem Vatikan. Und während Johannes XXIII. 1963 starb, ausgerechnet während des von ihm einberufenen Zweiten Vatikanischen Konzils zur „Vergegenwärtigung“ der Kirche, trat Johannes Paul II. im Lauf seiner jahrelangen Krankheit immer stärker als Solitär hervor, als der einsame Gigant des Leidens, hinter dem alles andere verblasste, erstarrte und zu schweigen hatte.

Verschiedene Seiten des Papsttums

Der Norditaliener Angelo Roncalli und der Pole Karol Wojtyla verkörperten verschiedene Seiten des Papsttums. Der Erste stellte sich voller fast naiv-kindlicher Neugier auf eine sich entwickelnde Welt gegen die „Unheilspropheten, die zwar vor religiösem Eifer brennen, in den heutigen Verhältnissen der Menschheit aber nur Unheil und Untergang erkennen“. Der Zweite betrachtete die moderne Gesellschaft als „Kultur des Todes“, gegen die mit Kreuzzugsfrömmigkeit und entsprechenden Bischöfen vorzugehen sei. Doch auch Johannes XXIII., heute gefeiert als Reformpapst, war kein Liberaler. Aufgewachsen in einer Kirche, die sich erst kurz zuvor das Unfehlbarkeitsdogma gegeben hatte und sich gegen die „modernistischen Irrtümer der Welt“ hinter ihren Mauern verschanzte, sein Leben lang beseelt von der klerikalen Frömmigkeit des 19. Jahrhunderts, wollte Johannes XXIII. beim Konzil „die Lehre der Kirche ohne Abstriche“ bekräftigen und der Welt lediglich neu predigen. Er begeisterte sich für die ultrakonservativen Beschlussvorlagen, die seine Kurialen für die Versammlung erstellten – doch als diese Papiere allesamt im Aufstand der Bischöfe untergingen („Wir sind ein Konzil und keine Schuljungen!“), sah dieser Papst höheren Willen am Werk. Er stellte sich nicht quer, er gab aus der Hand und gestattete unbegrenzte Diskussionsfreiheit. Eine Generation später tat Johannes Paul II. genau das Gegenteil: Er zurrte die Lehre fest, wo es nur ging. Für das Wohl der Kirche hielt er es für besser, Diskussionsfreiheit durch Disziplinierung zu ersetzen. Alles, was dem äußeren Bild gefährlich werden konnte, musste zugedeckt werden: Skandale, Korruption, Kindesmissbrauch.

Ein "Papst der Familie"

Am Sonntag, auf dem Petersplatz, bezeichnet Franziskus Johannes Paul II. als „Papst der Familie“, gleichzeitig weist er auf die beiden von ihm geplanten Bischofsversammlungen zur Diskussion der bisherigen kirchlichen Familien- und Sexualmoral hin und rühmt Johannes Paul II. dafür, dass er immer eine „feinfühlige Folgsamkeit gegenüber dem Heiligen Geist“ bewiesen habe. Das ist keine Würdigung einer verstorbenen Person, das ist ein Auftrag an die Bischöfe – zu hören, was der Heilige Geist vielleicht heute wollen könnte. „Mögen beide heiligen Päpste uns lehren, in das Geheimnis der göttlichen Barmherzigkeit einzudringen, die immer hofft und immer verzeiht, weil sie immer liebt“, schließt Franziskus. Die Fernsehkameras rücken applaudierende Kardinäle ins Bild. Nur bei Benedikt XVI., dem emeritierten Papst, ist nicht zu erkennen, ob er die Hände bewegt.

Unter den Ehrengästen an diesem Sonntag sind nicht nur 122 Regierungsdelegationen aus aller Welt, Vertreter der Königshäuser aus Spanien und Belgien und Zimbabwes Regierungschef Robert Mugabe. Dabei ist auch die Costa Ricanerin Floribeth Mora Diaz, die durch Johannes Paul II. auf, wie es heißt, „medizinisch unerklärliche Weise“ von einer lebensbedrohlichen Krankheit geheilt wurde. Die 51-Jährige mit schwarzem Schleier trägt eine Reliquie des neuen Heiligen zum Altar, eine in silbernes Rankenwerk gefasste Ampulle mit dem Blut Karol Wojtylas. Franziskus grüßt die Frau, noch bevor er sich den Größen der Politik zuwendet. Unter denen ist auch Lech Walesa als einstiger Chef der polnischen Solidarnosc, die von Johannes Paul II. ebenso diskret wie massiv unterstützt wurde. „Öffnet die Tore, ja, reißt sie weit auf für Christus! Habt keine Angst“, hatte Wojtyla bereits nach seiner Wahl zum Papst im Oktober 1978 gerufen.

"Wer nicht in Rom dabei sein kann, ist wenigstens hier"

In Polen , allein in der ehemaligen Bischofsstadt Karol Wojtylas, Krakau, kommen rund 150 000 zu den Heiligsprechungsfeierlichkeiten in den Stadtteil Lagiewniki. Ursprünglich hatten sie hier mit noch mehr Pilgern gerechnet. Doch „die meisten sind nach Rom gefahren“, erklärt eine junge Mutter. Die Heiligsprechung des polnischen Papstes im Vatikan möchte sie sich lieber zusammen mit anderen Gläubigen auf der Wiese zu Füßen des Sanktuariums anschauen als zu Hause im Fernsehen.

Das Sanktuarium hat zu diesem Zweck zwei Großleinwände aufgestellt. Andächtig und dicht gedrängt verfolgen die Zuschauer die Direktübertragung des Ersten Polnischen Staatsfernsehens aus Rom. Viele haben Tränen in den Augen, als die Heiligsprechung beginnt. Ein Sturm des Beifalls erhebt sich, als Papst Franziskus die Kanonisationsformel beendet hat. Dass neben Johannes Paul II. auch Johannes XXIII. heiliggesprochen wird, zählt auf der Wiese von Lagiewniki nicht. Euphorie bricht dafür aus, als die polnische Kamera im Vatikan lange das Heiligenbild Johannes Pauls II. zeigt. Fähnchen werden geschwenkt, noch einmal wird minutenlang geklatscht. „Dies ist der wichtigste Tag in der polnischen Geschichte“, sagt kurz darauf die Rentnerin Sofia. Sie habe ein tiefes inneres Bedürfnis gespürt, diesen Tag in Lagiewniki zu verbringen. „Nach der Heiligsprechung fühle ich mich unbeschreiblich glücklich“, sagt Sofia. „Johannes Paul II. war für uns Polen schon immer heilig, aber nun ist dies auch im Himmel festgeschrieben.“

Picknick und Gebete

Zwei Studentinnen aus Bilgoraj im Osten Polens sind extra für die Direktübertragung nach Krakau gepilgert, weil sie sich die Reise nach Rom nicht leisten konnten. Nun packen sie die Isomatten zusammen und machen sich auf zur ersten Danksagungsmesse in der Kathedrale des Sanktuariums. „Wer nicht in Rom dabei sein kann, ist wenigstens hier“, sagt eine der beiden. Ein paar Gläubige haben Campingstühle aufgestellt, Orangensaft und Schinkensandwichs werden herumgereicht. Die Picknick-Stimmung wird manchmal vom Gebet unterbrochen. Dann murmeln alle mit. Dass sich so viele die Übertragung ansehen möchten, hat auch mit den vielen Besuchen von Johannes Paul II. zu tun. Achtmal reiste er zwischen 1979 und 2002 in seine Heimat. Als er 1991 das Konsumfieber seiner Landsleute kritisierte, nahmen ihm das viele Polen übel. Dem volkstümlichen Papstkult tat es aber kaum Abbruch. Im ganzen Land wurden Papststatuen aufgestellt. Seit dem Tod Johannes Paul II. 2005 gehen längst nicht mehr so viele Polen sonntags in die Kirche.

Dafür wird am Sonntag aus der Direktübertragung aus dem Vatikan bald selbst eine heilige Messe. „Das Herz freut sich, denn unter uns sind in den Reliquien Heilige präsent: die heilige Schwester Faustyna und der gerade heiliggesprochene heilige Johannes Paul II.“, predigt Bischof Jan Zajac, der Rektor des Barmherzigkeitssanktuariums. Bald knien die Gläubigen nieder, wo sie gerade sind, im Gras oder auf der Straße. Spendensammler in weißen Roben bahnen sich einen Weg durch die dicht gedrängte Menge. „Macht Platz, damit die Hostien verteilt werden können! Macht Platz, bitte!“, dröhnt es noch lange aus einem Lautsprecher.

Dieser Text erschien auf der Dritten Seite.

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