Debatte über Armut: Grüne rücken von Hartz IV ab
Als Hartz IV eingeführt wurde, regierten die Grünen mit. Heute fordern sie eine Generalrevision. Im Koalitionsvertrag ist dies trotz der Kritik nicht vorgesehen. Womöglich muss die Groko nachjustieren.
Als Hartz IV im Januar 2005 eingeführt wurde, waren die Grünen noch an der Regierung. Nun, 13 Jahre später, hält die Partei die damals verabschiedeten Regelungen für überholt. „Die Zeit ist über Hartz IV hinweggegangen“, sagt der Grünen-Vorsitzende Robert Habeck – und schlägt damit neue Töne in der Sozialpolitik an. Stattdessen fordert Habeck einen Sozialstaat mit neuen Garantiesystemen und größere Anstrengungen bei der Armutsbekämpfung. „Die Leute sind ja nicht arm trotz Hartz IV, sondern wegen Hartz IV“, sagt er. Der Grünen-Chef reagiert damit auch auf Aussagen des CDU-Politikers Jens Spahn. Mit dem Satz, in Deutschland habe mit Hartz IV „jeder das, was er zum Leben braucht“, hatte der Gesundheitsminister viel Kritik auf sich gezogen.
Die Kritik der Grünen an Hartz IV
Schon seit Längerem fordern die Grünen, die Hartz-IV-Regelungen zu überarbeiten. Doch so deutlich wie Habeck hat das aus der Führungsriege bislang keiner ausgesprochen. „Viele Menschen haben offenbar den Eindruck, dass wir uns nie richtig von Hartz IV distanziert haben“, sagt der sozialpolitische Sprecher der Grünen im Bundestag, Sven Lehmann. Dabei habe die Partei programmatisch schon früh begonnen, Abstand zu nehmen und deutliche Korrekturen eingefordert. Sei es beim Thema Sanktionen oder bei der Anrechnung von Hinzuverdienst. „Als Gesamtpartei haben wir aber bisher zu wenig eindeutig gesagt: Wir wollen dieses Hartz IV überwinden und durch ein neues System der sozialen Sicherung ersetzen“, sagt der Grünen-Politiker. „Das steht jetzt an.“
Seit dem Herbst 2017 ist Lehmann neu als Abgeordneter im Bundestag, doch bei den Grünen gehört er schon länger zu den Kritikern von Hartz IV. Lehmann sorgte etwa dafür, dass die Partei sich mittlerweile für die komplette Abschaffung von Sanktionen ausspricht. „Wir wollen ein Ende der Praxis von Androhung und Bestrafung, die in vielen Job-Centern und Arbeitsagenturen Realität ist“, heißt es in einem Beschluss, den er auf dem Grünen-Parteitag in Münster Ende 2016 durchsetzte.
Neuer Schwung in die Debatte ist bei den Grünen auch deswegen gekommen, weil die Partei unter ihren beiden neuen Vorsitzenden in den nächsten zwei Jahren ein neues Grundsatzprogramm erarbeiten will. Anlass, vieles noch einmal infrage zu stellen: „Hartz IV ist gescheitert. Kleine Reparaturen helfen nicht mehr weiter“, sagt Felix Banaszak, Landesvorsitzender in Nordrhein-Westfalen. Die Debatte über das Grundsatzprogramm biete die Chance, „ein neues Garantiesystem zu entwickeln, bei dem die Menschen nicht mehr als Bittsteller gegenüber den Ämtern auftreten müssen“, sagt er. In Zeiten, in denen sich Arbeitsmodelle verändern und Lohnarbeit und soziale Sicherung immer stärker entkoppeln, ergebe es Sinn, über neue Sozialstaatsmodelle nachzudenken, findet er. Ein sanktionsfreies, Teilhabe sicherndes Einkommen, das ohne große Bürokratie ausgezahlt werde und wirklich vor Armut schütze, würde auch helfen, das Vertrauen in staatliche Institutionen wieder zu stärken, ist Banaszak überzeugt.
Auch sein Parteikollege Lehmann fordert eine sanktionsfreie Grundsicherung, die den Menschen ihre Würde und sozialen Rechte garantiere, auch wenn sie nicht leistungsfähig seien. „Wir müssen aufhören, sie zu kontrollieren und zu gängeln“, sagt er. Die Grünen-Bundestagsfraktion werde in Kürze einen Antrag zur sanktionsfreien Grundsicherung einbringen. „Wenn die Mitarbeiter der Jobcenter nicht mehr verpflichtet sind, Sanktionen zu verhängen und zu berechnen, dann bleibt auch mehr Zeit für die Betreuung und Beratung der Arbeitssuchenden“, sagt er. Lehmann kündigte außerdem einen Antrag zur Neuberechnung der Regelsätze an. „Die Berechnungsgrundlage muss überarbeitet werden“, fordert er. Die Regelsätze würden künstlich kleingerechnet und seien nicht armutsfest. „Es ist ungerecht, dass beispielsweise Kindern das Geld für Malstifte nicht zugestanden wird.“
Bei dem Thema sieht Lehmann eine große Chance für die Grünen – zumal sich die SPD überhaupt nicht darum kümmere. „Im Koalitionsvertrag steht quasi nichts zu Hartz IV“, sagt er. Manch ein Grüner hatte in den vergangenen Wochen erstaunt registriert, dass die beiden neuen Parteichefs Annalena Baerbock und Robert Habeck – beide eigentlich ausgewiesene Ökos – Themen wie die Sozialpolitik oder den Kampf gegen Kinderarmut so stark ins Zentrum stellen.
Die große Koalition und Hartz IV
Jens Spahns Interpretation, Hartz IV sei nicht mit Armut gleichzusetzen, wollen auch in der großen Koalition viele nicht einfach so stehen lassen. Menschen, die von der Grundsicherung leben müssten, seien durchaus arm, denn ein gutes Leben sei für sie nur schwer möglich, sagte SPD-Fraktionschefin Andrea Nahles der „Rhein-Neckar-Zeitung“. Zwar verhungere man damit nicht, aber man lebe am Existenzminimum und habe keine Chance auf Teilhabe. Die Äußerungen des Gesundheitsministers seien „nicht hilfreich“, kritisierte die SPD-Politikerin.
Wichtiger als die Leistungen anzuheben sei, möglichst viele Menschen „so schnell wie möglich aus Hartz IV herauszuholen“, sagte Nahles. Die frühere Arbeitsministerin verwies unter anderem auf den sozialen Arbeitsmarkt, der im Koalitionsvertrag vereinbart wurde. Durch Lohnkostenzuschüsse sollen Jobs für Langzeitarbeitslose entstehen, die bisher auf dem regulären Arbeitsmarkt keine Chance hatten. Bis zu 150 000 Menschen pro Jahr sollen so nach den Plänen von Union und SPD eine vom Staat bezuschusste Beschäftigung finden. Bis zum Ende der Wahlperiode 2021 sollen insgesamt vier Milliarden Euro dafür zur Verfügung gestellt werden.
Doch aus Sicht der Grünen reicht das nicht aus. Eine Generalrevision von Hartz IV sieht der Koalitionsvertrag von Union und SPD allerdings nicht vor. In der vergangenen Wahlperiode hatte Nahles als Arbeitsministerin noch die verschärften Sanktionen für junge Menschen abmildern wollen. Bei unter 25-jährigen können die Leistungen schneller und umfangreicher gekürzt werden. Fachleute empfehlen schon länger, dies zu ändern, nicht zuletzt das Nürnberger Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung. Doch das Vorhaben scheiterte damals am massiven Widerstand der CSU.
Ob der neue SPD-Arbeitsminister Hubertus Heil erneut den Konflikt mit dem Koalitionspartner suchen wird, ist ungewiss. Im Koalitionsvertrag taucht das Thema nicht auf, auch nicht als Prüfauftrag. Allerdings steht eine Überprüfung der Sanktionspraxis durch das Bundesverfassungsgericht noch aus. Das Sozialgericht im thüringischen Gotha hatte verfassungsrechtliche Bedenken angemeldet: Kürzungen des Existenzminimums verletzten die Grundrechte auf Menschenwürde und körperliche Unversehrtheit, heißt es in der Vorlage fürs Bundesverfassungsgericht. Gut möglich also, dass Hartz IV doch noch auf der Tagesordnung der großen Koalition landet.