Bislang nur Sterbefälle in Kliniken gezählt: Großbritannien korrigiert Zahl der Corona-Toten nach oben
Bisher wurden in England und Wales die Toten in Pflegeheimen nicht mitgezählt. Sie machen aber einen großen Teil der Sterbefälle durch das Coronavirus aus.
Die britische Regierung reagiert auf immer neue Hiobsbotschaften aus den lange vernachlässigten Alten- und Pflegeheimen. Seit Mittwoch enthält die Bilanz der Corona-Toten auf der Insel sämtliche Covid-19-Opfer, nicht nur wie bisher jene, die in Krankenhäusern verstorben sind. Dadurch stieg die Gesamtzahl binnen 24 Stunden auf 26.097 und liegt damit höher als in Frankreich und Spanien, teilte Vizepremier Dominic Raab am Mittwochabend mit.
Weil unterschiedliche Regionen sowie Behörden des Königreichs unterschiedlich schnell zählen, rechnen Fachleute sogar mit einer noch höheren Mortalität. Labour-Oppositionsführer Keir Starmer sprach am Mittwoch im Unterhaus von 27.241 Corona-Opfern, „eine wirklich schreckliche Bilanz“.
In den täglichen Pressekonferenzen hatten Minister und Fachleute lange Zeit stets nur jene erwähnt, die in den Krankenhäusern des Nationalen Gesundheitssystem einer Sars-CoV-2-Infektion erlegen waren. Am Dienstagabend lag diese Zahl bei 21.678. Hingegen stützte sich Starmer bei seiner Schätzung auf zusätzliche Veröffentlichungen der Statistikbehörde ONS sowie der Altenpflegeaufsicht CQC. Raab räumte die Schwierigkeit der Zählweise ein, warnte aber vor internationalen Vergleichen. Der Vizepremier musste erneut Premierminister Boris Johnson vertreten, weil dessen Verlobte Carrie Symonds am Morgen einen Jungen zur Welt brachte.
Die Sterbefälle in den Alten- und Pflegeheimen steigen an
Während der Regierungschef in seiner bisher einzigen öffentlichen Äußerung nach seiner schweren Corona-Erkrankung von „offenkundigen Erfolgen“ gesprochen hatte, sehen Fachleute Großbritannien noch lang nicht über den Berg. Das Land sei möglicherweise auf dem Weg, „die schlimmste Todesrate Europas“ zu verzeichnen, glaubt der Immunologe Jeremy Farrar vom angesehenen Wellcome Trust. Zwar scheint der Höhepunkt der im Krankenhaus an Covid-19 Verstorbenen schon zwei Wochen zurückzuliegen. Hingegen steigen die Sterbefälle in den mehr als 50.000 Alten- und Pflegeheimen des Landes stetig an.
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Die Kehrtwende der Regierung ist von den erschreckenden Zahlen erzwungen, die von der Statistikbehörde ONS kommen. Die dortigen Fachleute unter dem Cambridger Professor David Spiegelhalter zählen die Totenscheine, die in England und Wales ausgestellt werden; die Bevölkerung der beiden Landesteile macht 88 Prozent der derzeit rund 67 Millionen Briten aus. Weil die Registrierung von Sterbefällen stets ein wenig verzögert erfolgt, veröffentlichte das ONS am Dienstag die Werte für die Woche bis 17. April.
Während bis Mitte März 2020 knapp 5000 Menschen weniger gestorben waren als im Durchschnitt der vorangegangenen fünf Jahre, übertrifft die Zahl seither immer stärker das jahreszeitlich übliche Maß. In der jüngsten Berichtswoche über die Osterfeiertage registrierte das ONS 22.351 Totenscheine. Das entspricht dem höchsten Stand seit Beginn der Zählweise vor 27 Jahren, es sind mehr als doppelt so viele Tote wie in der gleichen Woche im Fünf-Jahres-Vergleich (10.497). In knapp 40 Prozent der Fälle fand Covid-19 Erwähnung als mindestens eine Todesursache.
Im Vergleich mehr Covid-19-Opfer als Belgien
Heimbetreiber weisen seit Wochen auf die katastrophalen Verhältnisse hin. Ihr Berufsverband NCF sprach schon Mitte April von mindestens 4300 Corona-Opfern außerhalb des NHS. Ein Rechenmodell der „Financial Times“, das sich vor allem auf Angaben des Statistikamtes ONS stützt, sieht die Gesamtzahl inzwischen sogar bei rund 47.000. Sollte diese Angabe auch nur annähernd korrekt sein, hätte Großbritannien mehr Tote je eine Million Einwohner durch Covid-19 zu beklagen als Belgien. Dessen Wert gab die Johns-Hopkins-Universität mit 647 an, Großbritannien lag bislang bei 319.
Bei der Frage nach den Ursachen für Großbritanniens traurigen Rekord wird immer wieder der späte Lockdown genannt. Ärzten zufolge dürfte aber auch eine Rolle spielen, dass der Gesundheitszustand der Bevölkerung im Vergleich mit anderen westeuropäischen Industrienationen nicht gut abschneidet. Vorerkrankungen der Leber durch übermäßigen Alkoholkonsum sind weitverbreitet. Mehr als die Hälfte der Erwachsenen gilt als übergewichtig oder adipös. Die daraus resultierenden Erkrankungen wie Bluthochdruck, Herzverfettung und Diabetes erhöhen nach Angaben des Londoner Kardiologen Aseem Malhotra das Risiko des tödlichen Ausgangs einer Covid-19-Erkrankung um das Zehnfache.