Zehn Jahre nach 7/7: Großbritannien: die geteilte Nation
Zehn Jahre nach den Anschlägen von London mit 52 Toten nimmt die Spaltung der britischen Gesellschaft zu.
Rettungsmannschaften führten Sajda Mughal am 7. Juli 2005 aus der King’s Cross Station in London. Die junge Frau war unverletzt, aber benommen. „Ich wollte nur allein sein“, erinnert sie sich. Erst als sie im McDonald’s gegenüber dem Bahnhof saß und den Ruß von ihren Kleidern klopfte, sah die Personalmanagerin einer Investmentbank auf einem Fernsehschirm, was passiert war. Vier britische Muslime hatten mit Rucksackbomben 52 Mitbürger und sich selbst getötet – die Hälfte davon in der U-Bahn-Linie Piccadilly, in der auch Mughal zur Arbeit fuhr. Der 19-jährige Germaine Lindsay, ein Brite jamaikanischer Abstammung, hatte die Bombe gezündet. Dieser Tag änderte das Leben von Sajda Mughal und er änderte Großbritannien. 9/11, die Attacke auf New York und das Pentagon, war ein Angriff ferner, ausländischer Feinde.
Nun waren die Attentäter junge Briten, die um die Ecke groß geworden waren. „Wenn man so dem Tod gegenübersteht, kommt man Gott ein bisschen näher“, sagt Mughal heute. „Was ich heute tue, mache ich wegen dem, was damals passiert ist.“ Mughal gab ihren Job auf, gründete eine Initiative, die Frauen dabei hilft, ihre Kinder vor dem Extremismus zu bewahren. Extremismus wird vor allem online verbreitet – und viele muslimische Mütter stehen dem Internet hilflos gegenüber. „Wenn wir die Kinder beschützen, schützen wir die ganze Gesellschaft“, sagt Mughal.
Seit den Anschläge gab es mehrere Versuche, die Gemeinschaften in Großbritannien näher zusammenzubringen. „Wir werden an unserer britischen Lebensart festhalten. Unsere Vielfalt ist unsere Stärke“, sagte Premier Tony Blair nach den Anschlägen. Millionen Pfund wurden investiert, um die Radikalisierung junger Muslime zu verhindern und sie mit „britischen Werten“ vertraut zu machen. Hilfsorganisationen wie Sajdas Mughals „Jan Trust“ bekamen viel Zulauf, moderate Muslimverbände wurden mit Staatsgeldern gefördert.
Der Chefermittler zieht eine ernüchternde Bilanz
Doch am fünften Jahrestag der 7/7-Anschläge, wie sie die Briten nennen, zog der ehemalige Chefermittler, Andy Hayman, eine nüchterne Bilanz. „Beim Versuch, die Radikalisierung in unserem Land zu verhindern, haben wir keine Fortschritte gemacht.“ Je mehr Geld die Regierung für die Integration muslimischer Bürger ausgab, desto mehr Extremisten tauchten auf dem Radar der Sicherheitskräfte auf.
Wieder sind fünf Jahre vergangen. Schätzungsweise 2000 junge Briten haben sich dem „Islamischen Staat“ (IS) angeschlossen – Teenager, Schülerinnen, sogar eine zwölfköpfige Familie aus Luton. Die mit 15 zum IS durchgebrannte Amira Abase schrieb einem Reporter der „Mail on Sunday“, der unerkannt per Twitter ihr Vertrauen gewann, zu dem Terroranschlag im tunesischen Sousse ein „Lol“ – laughing out loud. Das Morden hat sie wunderbar amüsiert.
Premier David Cameron sprach nach der Attacke von Sousse, bei der 30 Briten getötet wurden, von einer „existenziellen Bedrohung der westlichen Lebensweise“. Nun will seine Regierung mit neuen Gesetzen gegen alle die vorgehen, die für eine „extremistische islamistische Ideologie“ eintreten. „Wer sagt, der Westen ist schlecht und die Demokratie falsch, Frauen sind minderwertig und Homosexualität Sünde, die religiöse Doktrin steht über dem Gesetzbuch und das Kalifat über dem Nationalstaat, der rechtfertigt die Gewalt.“ Wenn Cameron ein „Ende des Tolerierens der Intoleranz“ fordert, klingt es zehn Jahre nach 7/7 wie Selbstkritik. Auch Tony Blair arbeitet an einer neuen Grundsatzrede zum islamischen Terror und fordert Berichten zufolge mehr Wehrhaftigkeit: „Die Beschwichtigung der nicht zu Beschwichtigenden ist unmöglich.“
Sajda Mughal ist nun 32 Jahre und hat zwei Kinder. Für ihre Arbeit bekam sie einen Orden von der Queen. Wenn Teenager Sympathien für den IS äußern, erzählt sie, was sie vor zehn Jahren erlebt hat. Aber in ihren Versuch, Muslime mit der Mehrheitsgesellschaft zu versöhnen, drängt sich die wachsende Islamophobie. „Die regt mich am meisten auf.“ Nach jedem Terrorakt würden die rassistischen Attacken folgen, vor allem verschleierte Frauen seien die Opfer. „Das gibt ihnen das Gefühl, nicht zur britischen Gesellschaft zu gehören.“
Der Anschläge gedenken die Briten am Dienstag mit einer Schweigeminute. Doch über gesellschaftliche Gräben im Königreich wird noch viel gesprochen werden müssen.