Afghanistan: Generation Nato
Ende 2014 werden die internationalen Truppen ihren Einsatz in Afghanistan nach zwölf Jahren beenden. In dieser Zeit ist eine Schülergeneration herangewachsen. Die jungen Frauen und Männer sind die ersten Afghanen seit langem, die in relativer Stabilität aufwuchsen.
Der Tumult vor dem Zelt wird immer größer. Junge Männer drängen zum Eingang, der durch ein mannshohes Drehkreuz versperrt ist. Aufgeregte Rufe, ein Handgemenge, dann geben die Wachleute auf. Einer nach dem anderen zwängt sich durch das Drehkreuz, Jugendliche in abgewetzten Anzügen oder in langen Hemden und Filzwesten. Manche tragen auch Jeans und Lederjacke und eine Sonnenbrille im Haar. Unter dem Zeltdach aus bunten Stoffbahnen mischen sie sich unter die jungen Frauen und älteren Herren, die schon vor ihnen auf die Bildungsmesse durften. Die findet zum zweiten Mal statt – auf dem Gelände des Technologie-Instituts in Kabul, Afghanistan.
Auch Sayed Tayuddin zieht mit einigen Freunden an den Ständen der Berufsschulen vorbei, obwohl er bereits eine Ausbildung an einer Fachschule für IT-Technik macht. Er hat große Pläne: Eigene Computerprogramme will er schreiben und damit reich werden. Träume eines ganz normalen 19-Jährigen. Auch sonst scheint sich der junge Mann mit dem Holzfällerhemd wenig von Altersgenossen anderswo auf der Welt zu unterscheiden, denn mehr noch als die ausgestellten Infotafeln und Maschinen fesseln die jungen Frauen im Zelt seine Aufmerksamkeit. Zum Beispiel das Mädchen mit dem locker um den Kopf geschwungenen grauen Tuch, auf das schwarze Totenköpfe gedruckt sind. Und besonders jene, die ihr Kopftuch „iranisch“ tragen, wie man in Kabul sagt – es weit nach hinten rutschen lassen, so dass ein großer Teil des Haarschopfes sichtbar bleibt.
Wenn die Nato Ende 2014 ihren Kampfeinsatz in Afghanistan nach zwölf Jahren beendet, wird genau eine Schülergeneration die Schule durchlaufen haben. Das afghanische Bildungsministerium rechnet für 2014 mit einer halben Million Studienanfänger, 2013 waren es noch 320.000. Sie sind die ersten jungen Afghanen seit Jahrzehnten, die in relativer Stabilität aufgewachsen sind und die Bürgerkriege in ihrem Land allenfalls in ihrer frühen Kindheit erlebten. Man könnte sie Generation Nato nennen.
Zwar schafften es auch die internationalen Truppen nicht, das Land zu befrieden. Doch in den großen Städten hat sich immerhin so etwas wie ein Friedensalltag entwickelt. Besonders in Kabul, der Hauptstadt. Wo vor zehn Jahren noch heimkehrende Flüchtlinge unter einfachen Zeltplanen zwischen zerbombten Bauruinen hausten, entstehen große Wohnblöcke und Glaspaläste mit Einkaufszentren oder „Wedding Halls“, Hochzeitshallen, an denen abends Leuchtreklamen in schrillen Farben erstrahlen. Werbeplakate am Straßenrand preisen Mobilfunkanbieter an, Energiesparlampen und auch ein Freizeitbad. Fast wie in Europa. Doch das ist nur die eine Seite der afghanischen Wirklichkeit. Die meisten Afghanen leben auch 13 Jahre nach dem Sturz der Taliban in bitterer Armut. Gleich hinter den Basarstraßen mit kleinen Läden und Garagenwerkstätten beginnen die Elendsquartiere, die sich bis in die Berge rund um die Stadt ausdehnen. Schuhkartonsiedlungen ohne feste Straßen und Kanalisation. In Kabul sieht man auch verdreckte Kinder mit verfilzten Haaren und Fetzen am Körper, die apathisch in Abwasserpfützen hocken oder auf dem Mittelstreifen der großen Straßen mit leerem Blick in Geländewagen mit den Kürzeln ausländischer Hilfsorganisationen starren, in der Hoffnung, ein bisschen Geld oder etwas zu Essen zu bekommen. Die meisten von ihnen haben wohl noch nie eine Schule von innen gesehen. Tatsächlich geht fast die Hälfte der afghanischen Kinder nach wie vor nicht zur Schule. Immerhin: Die Einschulungsraten steigen.
„Der Bildungshunger ist enorm“, sagt Gustav Reier von der Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (GIZ), der staatlichen deutschen Entwicklungsagentur. Bildung ist einer der Schwerpunkte der deutschen Entwicklungshilfe in Afghanistan. Dazu gehört auch der Aufbau von Berufsschulen. Auf der Bildungsmesse in Kabul überreicht Reier gemeinsam mit afghanischen Honoratioren Zertifikate an Absolventen beruflicher Fortbildungskurse. Mitten im Zelt haben sie einen kleinen Kreis gebildet, in dem die Schüler der Reihe nach aufgerufen werden. „Manch ein Kursteilnehmer nimmt eine dreitätige Anreise auf sich, um in Kabul eine Fortbildung zu machen“, hatte Reier zuvor erzählt. Auch drei Lehrerinnen aus Herat, der großen Stadt im Westen des Landes, erhalten eine Auszeichnung. Fast unterwürfig, den Blick fest auf den Boden gerichtet, nehmen sie das Schriftstück entgegen. Blickkontakt zu den männlichen Autoritäten oder gar einen Handschlag vermeiden sie, denn das wäre unschicklich für eine afghanische Frau.
„In Herat wird geredet, weil ich nach Kabul gefahren bin“, sagt Somayye Vaezi abseits des Trubels. Dabei wurde die 24-Jährige von einem ihrer Brüder nach Kabul begleitet. Die kleine Frau mit dem runden Gesicht erlaubt sich auch keine Nachlässigkeiten beim Kopftuch. Und an ihrem Kleid dürften selbst strenge Traditionalisten nichts auszusetzen haben: schwarze lange Ärmel, hochgeschlossen, bodenlang. Wären da nicht die grün-roten Blumenborten auf Rock und Oberteil, würde sie in dem schummrigen Licht wohl niemand wahrnehmen. Dabei ist Somayye Vaezi mit ihren 24 Jahren selbst schon eine Autorität. Nach der Fortbildung in Kabul wird sie in Herat andere Lehrer ausbilden. Auch Männer. Viele werden deutlich älter sein als sie, aber das war auch bisher schon der Fall. „Manche Männer haben sich anfangs geweigert, von mir unterrichtet zu werden. Aber sie gewöhnen sich daran“, sagt sie, lächelt dabei zunächst schüchtern und strahlt dann doch stolz und offen. Für Somayye Vaezi läuft es gut, das Leben in Afghanistan. Aber sie hat auch die Unterstützung ihrer Eltern. Wie ihre Kolleginnen stammt sie aus einer gebildeten Familie, in der es selbstverständlich war, auch die Töchter zu fördern. In der Talibanzeit, als Mädchen von den Schulen verbannt wurden, schickten solche Familien ihre Kinder meist in heimliche Schulen, die Lehrerinnen in ihren Wohnungen betrieben. Auch Somayye Vaezi ging anfangs in eine solche Schule. Angst vor einer Rückkehr der Taliban nach dem Abzug der Nato-Truppen haben Somayye Vaezi und ihre Kolleginnen nicht. Sie sind überzeugt, dass sich das Rad nicht mehr zurückdrehen lässt. Und tatsächlich: Selbst dort, wo die islamischen Fundamentalisten in Afghanistan wieder an Einfluss gewinnen und versuchen, Mädchenschulen zu schließen, setzen sich Eltern nun dagegen zur Wehr. Meist mit Erfolg.
Die Revolution der Frauen
In aller Stille planen afghanische Frauen sogar so etwas wie eine Revolution. In einem unscheinbaren Container auf dem Gelände der alten Universität in Masar-i-Scharif. Die Stadt im Norden Afghanistans, in der auch die Bundeswehr stationiert ist, hat längst eine neue Universität, doch weil der Andrang der Studenten so groß ist, wird auch das alte Gebäude aus der Sowjetzeit weiter genutzt. Hinter der maroden Fassade mit ihrer klapprigen Fensterfront und dem gezackten Betonvordach drängen sich junge Männer und Frauen in den spartanischen Lehrräumen mit schwarzgesessenen Holzstühlen und ergrauten Vorhängen. Seit den 1980er Jahren scheint sich hier nicht viel verändert zu haben, auch nicht im Büro des Vizekanzlers mit seinen hohen mintgrünen und weißen Wänden. Einzig der mächtige Kopierer, der hier zwischen verschlissenen Holzfurnierschränken steht, zeugt von der neuen Zeit. Vielleicht steht er gerade deshalb beim Chef und nicht wie anderswo im Sekretariat. 11.000 Studenten gibt es derzeit in Masar-i-Scharif, 30 Prozent davon sind Frauen. Ihre Professoren haben meist selbst nicht mehr als einen Bachelor-Abschluss. Keine guten Voraussetzungen, um eine neue Elite auszubilden. Doch in dem Container im Innenhof wird genau daran gearbeitet: an einer neuen afghanischen Elite. Mit deutscher Hilfe hat die Universität hier eine kleine juristische Bibliothek für Jurastudentinnen eingerichtet, einen Rückzugsort und Treffpunkt. Auch Englischkurse speziell für Frauen werden angeboten, damit die jungen Akademikerinnen später gegenüber der männlichen Konkurrenz bestehen können. „Wer jetzt Jura studiert, ist ein Entscheider von morgen“, sagt Philipp Reder, deutscher Berater an der Jurafakultät. Wenn mehr Frauen Richterinnen oder Anwältinnen werden, so das Kalkül, dann wird sich dies irgendwann auch auf die Lage der Frauen insgesamt auswirken. Die eigentliche Revolution besteht aber darin, dass sich immer mehr Frauen für das Studium der Scharia, des islamischen Rechts, einschreiben. In der juristischen Fakultät gibt es dafür einen eigenen Zweig, denn Scharia-Richter haben einen festen Platz im afghanischen Rechtssystem.
„Wir dürfen den Männern nicht die Deutungshoheit über die Scharia überlassen“, sagt Amina Hashimi, die gemeinsam mit anderen Jurastudentinnen den Nachmittag in der kleinen Frauenbibliothek verbringt. Sie alle sind Anfang 20 und tragen ihr schwarzes Kopftuch straff gebunden, damit kein Haar herausschaut. Auch ihre bodenlangen dunklen Mäntel lassen keine Spekulationen über das Darunter zu. „Wir wollen nicht, dass der Westen kommt und uns von der Scharia befreit“, sagen sie. „Afghanistan ist ein islamisches Land, und deshalb wollen wir nach islamischen Gesetzen leben.“ Tatsächlich seien Frauen in der Scharia gleichberechtigt, die Taliban und andere Fundamentalisten würden den Islam und die Scharia aber missbrauchen und gegen die Frauen auslegen. Witwen etwa stünden oft völlig mittellos da, weil männliche Verwandte ihnen ihr Land wegnähmen – mit der Begründung, Frauen dürften nicht erben. Die Scharia-Richter, die in solchen Fällen oder auch bei Scheidungen angerufen werden, gäben ihnen meist recht. „In Wahrheit ist in der Scharia das Erbrecht von Frauen aber ausdrücklich festgeschrieben“, erklärt Amina Hashimi. Die Revolution der Scharia-Studentinnen setzt ganz unten an.
Baktash Safi, mit 25 Jahren nur wenig älter als die Studentinnen an der Universität, betrachtet die Welt eher von einer höheren Warte aus. Genau genommen aus dem zehnten Stock. Er gehört schon jetzt zur Elite Afghanistans, denn seine Familie ist eine der reichsten des Landes. Seit Generationen handelt sie mit zentralasiatischen Nachbarstaaten, im Moment vor allem mit Öl. Auch Tankstellen und Banken betreibt die Ghazanfar-Group. Firmenchef Mohammad Ibrahim Ghazanfar, Baktash Safis Onkel, hat kürzlich mitten in Masar-i-Scharif ein Bürogebäude mit bläulich schimmernder Glasfassade errichten lassen. Von der Dachterrasse des neuen Firmensitzes aus ist die Stadt gut zu überblicken, schließlich gibt es kaum ein anderes Gebäude hier, das so hoch ist.
Während unten auf der Straße die kleinen Händler der Stadt auf ihren Mopeds mit angebauter Ladefläche vorbeiknattern, erläutert der Firmenchef in einem Salon mit Aquarium und pinkfarbenen Sesseln im Louis-XV-Stil, dass Afghanistan über so viele Bodenschätze verfüge, dass es „eines der reichsten Länder der Welt werden könnte“. Der schmächtige Baktash, der acht Sprachen spricht und früher Turner war, steht zunächst im Hintergrund. Trotz seines silbernen Anzugs könnte man ihn leicht übersehen – dabei ist er seit seiner Rückkehr vom Studium aus Indien stellvertretender Chef der Ghazanfar-Group. Sein Onkel hat gerade zusammen mit einem türkisch-arabischen Konsortium die erste Ölförderlizenz für Afghanistan erworben. In diesem Jahr sollen die Bohrungen beginnen, im Jahr darauf das erste Öl fließen. Beim Buffet am Pool auf einer Galerie oberhalb des Salons erläutert Baktash Safi, was das für seine Familie und sein Land bedeutet: „Wer das Öl hat, hat die Macht.“
Die alten Machteliten arrangieren sich
Der Nachwuchspatriarch hat seine Lektion offenbar schnell gelernt. Er sei froh, dass die ausländischen Truppen bald abziehen, vor allem die Amerikaner, die es nur auf die Bodenschätze Afghanistans abgesehen hätten, sagt er und schenkt sich Wasser in das Weinglas vor seinem Teller, während Kellner seinen Gästen Wodka und Wein in Wassergläsern anbieten. Angst vor einer Rückkehr der Taliban hat auch er nicht. Schließlich arrangierte sich die Familie schon einmal mit den Gotteskriegern, als die Ende der 1990er Jahre ihre Herrschaft auf Masar-i-Scharif ausdehnen konnten. Der Ghazanfar-Clan lebte schon immer nach seinen eigenen Regeln, egal wer unter ihm regierte – so könnte man seine Botschaft deuten. Doch auch Diplomaten und Entwicklungshelfer in Kabul sehen die Zukunft Afghanistans nicht nur schwarz. Vor allem rechnen sie nicht damit, dass Afghanistan nach dem Abzug der Nato in einem neuen Bürgerkrieg versinkt. Als Beleg nehmen sie den Bauboom in den großen Städten. Auch viele ehemalige Kriegsherren investierten hier im großen Stil, sagen Diplomaten in Kabul, weshalb sie kein Interesse daran haben könnten, das Land wieder in Schutt und Asche zu legen. Allerdings: Ein Bauboom allein bringt noch keinen Aufschwung, und den braucht das Land, wenn die vielen jungen Schulabgänger eine Perspektive haben sollen. Davon ist in Afghanistan bisher nur wenig zu sehen.