Nahost-Konflikt: Generation Frust
Sie lebt in Tel Aviv, er im Gazastreifen. Als sie geboren wurden, brach die Intifada aus, Frieden haben sie nie erlebt. Für die Israelin Yael Lotan und den Palästinenser Yahya Alburai ist der Krieg ein Spiel, dessen Regeln sie nicht bestimmen. Und sie sind es leid.
Yael Lotan sehnt sich nach Frieden, doch manchmal wünscht sie sich nichts mehr als Krieg. Keine Militäroperation, die nach ein paar Tagen schon wieder vorbei ist. Sondern einen Krieg bis zum bitteren Ende, einen, den nur eine Seite gewinnt. So mächtig, dass auf ihn kein weiterer mehr folgen kann.
Für Yahya Alburai ist Frieden nicht mehr als ein abstrakter Begriff. Eine Worthülse, mit der Politiker manchmal sprechen, sie aber nie mit Inhalt füllen. „Mein Leben ist bestimmt von Konflikt und Tod“, sagt er.
Yael Lotan ist Israelin und lebt in Tel Aviv. Yahya Alburai ist Palästinenser, er lebt im Gazastreifen. Ihre Völker führen Krieg gegeneinander, seit die beiden geboren wurden, seit 1987, als die erste Intifada begann. Es war der erste große Aufstand der palästinensischen Bevölkerung gegen die israelische Besatzung. Seitdem kommt keine Ruhe in die Region.
Erst Mitte November ist die Lage zwischen Israel und den Palästinensern erneut eskaliert. Nach monatelangem Raketenbeschuss aus dem Gazastreifen tötete Israel den Militärchef der Hamas mit einem gezielten Raketenangriff und löste damit den jüngsten Krieg aus. Weder Yael noch Yahya wollten ihn. Sie sind das Kräftemessen leid. Es kommt ihnen wie ein niemals endendes Spiel vor, dessen Regeln sie nicht beeinflussen können. Doch obwohl sie nicht mitspielen wollen, können sie nicht heraus.
Yahya ist groß und schlank, ein attraktiver junger Mann mit charmantem Lächeln und ruhiger Stimme. Mit seiner Familie lebt er im fünften Stock eines Hochhauses in Gaza-Stadt, seine neun Geschwister sind allesamt älter als der 25-Jährige. Keine zwei Tage ist der Waffenstillstand alt, Rauch steigt noch aus den Ruinen auf, es riecht verbrannt. Vor dem Haus spielen Kinder im Matsch, an der Wand gegenüber hängt das mehrere Meter große Plakat eines Märtyrers. Eine trostlose Gegend, aber sie gefällt Yahya besser als Dschabaliya, das Flüchtlingslager im Norden Gazas, in dem seine Familie vorher gelebt hat. Dschabaliya ist auch das Camp, von dem aus sich 1987, in Yahyas Geburtsjahr, die Intifada ausbreitete.
„Mir war immer bewusst, dass ich hier an keinem normalen Ort lebe“, sagt Yahya. Zu seinen frühesten Kindheitserinnerungen zählt, wie sein älterer Bruder Youssef 1991 angeschossen wird, weil er Molotow-Cocktails auf Soldaten geworfen hat. Wie sein Vater, heute pensionierter Lehrer, wegen Steinewerfens im Gefängnis sitzt. Wie einsam er war, weil seine vor Sorgen kranke Mutter sich nicht um ihn kümmern konnte. „Konflikt ist Teil des palästinensischen Lebens“, sagt er. Es macht ihn wütend. Aber er ist auch stolz darauf, zu einem Volk zu gehören, das sich nicht unterkriegen lässt.
Was es bedeutet, dass die Palästinenser sich nicht unterkriegen lassen, hat die Israelin Yael letzte Woche mal wieder erfahren.
Zum ersten Mal seit 1991 flogen Raketen auf Tel Aviv, sie hätten auch sie treffen können, theoretisch. Eine Frau mit wildem, schwarzem Haar, die jetzt gerade eine Bluse von American Apparel trägt. Optisch passt sie gut in das Szeneviertel, in dem sie wohnt. Hier, auf der Sheinkin Straße, reihen sich Cafés und Boutiquen junger Designer aneinander. In ihrem Zimmer hängen Vintage-Taschen, es ist etwas unordentlich. Ihr Hund Soda, ein Terrier, wälzt sich auf dem Bett.
"Mein Leben ist so langweilig - ich möchte weinen"
Ihr erster Gedanke, als sie von der Tötung Ahmed al Dschabaris, des Militärchefs der Hamas, gehört hat, war: „Fuck the conflict“, Scheiß drauf. Sie war genervt. Zu lange schon erlebt sie das Hin und Her zwischen Israel und den Palästinensern. Zu oft haben Politiker über eine Zwei-Staaten-Lösung und einen friedlichen Weg dahin gesprochen – und doch nie etwas geändert. Daher ihr Wunsch nach einer Endgültigkeit, nach einem Krieg der Kriege. Damit das Spiel nicht alle zwei Jahre von vorne losgeht und doch nur dazu missbraucht wird, von innenpolitischen Problemen abzulenken, den steigenden Lebenshaltungskosten und Ausgaben für die Siedlungspolitik in Israel, den Machtkämpfen zwischen radikalen Fraktionen in Gaza.
Yael studiert Philosophie in Tel Aviv, sie ist vergangene Woche ganz normal zur Universität gegangen. Außerdem hat sie ein paar Tage in Jerusalem verbracht, ihre Mutter hat dort zum zweiten Mal geheiratet. Sie hat versucht, den Konflikt so gut es ging auszublenden. „Natürlich haben wir auch über Politik geredet“, sagt Yael, „aber meine Mutter hat irgendwann gesagt: ,Hör auf jetzt, ich muss Lieder für die Party auswählen!’“.
Auf der Hochzeit, sagt sie, habe fröhliche Stimmung geherrscht.
Krieg gehört so sehr zur Tagesordnung, dass es kein Widerspruch ist, ein Fest zu feiern und sich gleichzeitig im Krieg zu befinden. Da er schon ewig anhält, ist er banal geworden. In Sderot, einem Ort, der an den Gazastreifen angrenzt und oft Raketenbeschuss ausgesetzt ist, saßen Jugendliche in der Woche des Kampfes Abend für Abend auf einem Hügel. Sie aßen Erdnüsse, rauchten Wasserpfeife und beobachteten die Raketen, die aus dem Gazastreifen und in den Gazastreifen flogen. Bei jeder Explosion johlten sie.
Yahya hat nicht gejohlt. Er ist auch nicht ausgegangen, niemand in Gaza ist ausgegangen, der Ort glich einer Geisterstadt. Yahya hat die Woche eingesperrt mit seiner Familie in der Wohnung verbracht. Gab es Strom, hat er seinen Computer hochgefahren, um Nachrichten zu lesen oder sich mit Freunden auf Facebook auszutauschen. Wenn es dunkel wurde, ist er, wie alle anderen Bewohner des Hauses, für die Nacht in den Keller gegangen. Es erschien ihnen sicherer dort, aber nicht sicher genug. Yahya hat in der Woche kaum geschlafen. 20 Stunden insgesamt, sagt er. Höchstens.
Er ist erleichtert, dass dieser Krieg fürs Erste vorbei ist. Glücklich wirkt er trotzdem nicht. „Das Schlimmste ist, dass sich mein Alltag nicht so sehr von dem in Kriegszeiten unterscheidet“, sagt er.
In Gaza gibt es keine öffentlichen Büchereien, kein Kino, keine Klubs. Meistens sitzt er mit Freunden vor dem Haus und tut nichts. „Mein Leben ist so langweilig“, sagt er, „ich möchte weinen.“
Daran wird auch die Entscheidung der UN-Vollversammlung in New York nichts ändern. Ob Palästina einen Beobachterstatus hat oder nicht, macht aus Yahya Alburai keinen anderen Menschen. Er ist derselbe gebildete junge Mann, der englische Literatur studiert hat und heute arbeitslos ist, und der sagt: „Wenn du dich nicht der Hamas unterordnest, hat du keine Chance auf einen anständigen Job.“ Er hatte einen im Sharek Youth Forum, einer liberalen Organisation für Jugendarbeit. Bis diese von der Hamas geschlossen wurde, weil sie angeblich Aktivitäten unterstützt habe, die mit der Scharia nicht vereinbar sind. Darunter gemeinsame Ausflüge von Jungen und Mädchen zum Strand oder in Konzerte.
Yahya möchte mit der Hamas nichts zu tun haben. Religion, Fanatismus, die Absolutheit der Organisation, das ist nicht seine Welt.Was er will: reisen dürfen.
Er hat gelesen, dass man nur eine Minute am Times Square in New York stehen müsse, um allen Nationen der Welt zu begegnen. Doch die israelische Blockade macht es ihm unmöglich, dorthin zu gelangen. „Ich lebe im größten Gefängnis der Welt“, sagt er, und sein Blick wird starr.
Yael kann reisen. Sie war schon in Europa und den USA. Sogar in Gaza einmal. In ihrer Zeit beim Militär 2005, als Israel dort die jüdischen Siedlungen geräumt hat. Weil die Siedler nicht gehen wollten, hatten sie tote Ratten und Katzen in ihren Häusern hinterlassen. Yael musste sauber machen. Die damalige Räumung empfindet sie heute als Farce, als kleines Zugeständnis, um sich nicht um eine dauerhafte Lösung des Konflikts bemühen zu müssen. „Wir behandeln die Palästinenser wie Kinder“, sagt sie. „Wenn sie Schokolade wollen, geben wir ihnen einen Apfel. Und wenn sie sich dann beschweren, dass ihnen Schokolade zusteht, sagen wir, dass sie nie zufrieden sind mit dem, was sie bekommen.“
Dass es einen Konflikt gibt, realisierte sie erst mit 13
Yahya sagt, er hasse die Israelis nicht, trotz der Blockade. Auch wenn er gesehen hat, wie israelische Soldaten in sein Haus stürmten und einen Mann fast zu Tode prügelten, während er als kleiner Junge hilflos danebenstand. Er rationalisiert. „Ich habe kein Problem mit den Israelis“, sagt er, „sondern mit den Zionisten.“ Das sind für ihn die Mächtigen Israels, die Soldaten Befehle erteilen, Politiker wie Premier Benjamin Netanjahu und Verteidigungsminister Ehud Barak.
Gegen jene, die er Zionisten nennt, hat er in der zweiten Intifada im Jahr 2000 gekämpft. Nach der Schule sind Yahya und seine Klassenkameraden zu den jüdischen Siedlungen gefahren und haben Steine geschmissen. Dass es ein aussichtsloser Kampf ist, weiß er heute: Wehren sie sich gegen die Besatzung, erhöht Israel die Restriktionen, weil jeder sieht, wie gefährlich sie sind. Verhalten sich die Palästinenser ruhig, sieht niemand einen Anlass, etwas an ihrer Situation zu ändern. „Das hier ist meine Heimat“, sagt Yahya.
„Das hier ist meine Heimat“, sagt auch Yael. Für sie war die zweite Intifada die schlimmste Zeit ihres Lebens. Ständig gab es Attentate auf Zivilisten. Drei Bomben sind neben ihrem Haus in die Luft gegangen, zwei in Cafés, in die sie gelegentlich mit Freunden ging. Der Terror war ein Geist, der seine Gewalt willkürlich und unvorhersehbar entfachte. „Er hat mich paranoid gemacht“, sagt Yael. Und er hat dafür gesorgt, dass es beinahe unmöglich ist, der anderen Seite nicht mit Vorurteilen zu begegnen. „Wenn ich gesehen habe, dass ein Araber in den Bus stieg, bin ich panisch hinaus“, sagt sie.
Yael ist in einem konservativen Haus behütet aufgewachsen. Dass es überhaupt einen Konflikt zwischen ihrem Volk und den Palästinensern gibt, hat sie erst mit 13 realisiert. Sie feierte mit ihrer Familie den Jerusalemtag, einen nationalen Feiertag, der im Gedenken an die Wiedervereinigung der Stadt nach dem Sechs-Tage-Krieg begangen wird. In der Altstadt waren viele, sie haben „Tod den Arabern“ geschrien. Und Yael weiß noch, dass ihr gegenüber palästinensische Kinder standen, die sie angeschaut haben. „Plötzlich hatte ich das Gefühl, dass sie nicht anders sind als ich, dass sie genauso wenig Ahnung von dem haben, was hier vor sich geht.“ Das sei der Moment des Umdenkens gewesen.
Obwohl sich Yael seither in einer linken Partei engagiert, die auch den Dialog zwischen Israelis und Palästinensern forciert, fühlt sie sich als Figur eines Spiels, das seit ihrer Geburt gespielt wird, Runde um Runde, das ihre ganze Generation prägt und das die Mächtigen über ihre Köpfe hinweg entscheiden. Die Friedensverhandlungen in den 90er Jahren sind höchstens eine vage Erinnerung. Ernsthafte Friedensbemühungen kennen sie nicht. Und eine Generation, die Frieden nicht kennt, kann sich Frieden auch nicht vorstellen.
In der letzten Runde haben beide Seiten gewonnen. Die Hamas konnte ihre Stärke demonstrieren, indem sie Israel zu einer Lockerung der Blockade zwang. Israels Regierung konnte ebenfalls einen Sieg für sich verzeichnen. Einmal mehr hat sich das Land wehrhaft gezeigt. Das neue Raketenabwehrsystem Iron Dome hat erfolgreich einen Großteil der Angriffe aus dem Gazastreifen abgefangen.
Verloren haben in dieser Runde all jene, die solche Runden leid sind. „Meine größte Errungenschaft in dem Spiel“, sagt Yahya, „ist es, noch am Leben zu sein.“