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Und Marsch! André Höhne überwacht das Aufwärmen eines jungen Nachwuchsgehers im Sportforum Hohenschönhausen.
© Torsten Hampel

Leistungssport Gehen in der Krise: Geht so!

Praktisch wirkt es unnatürlich, theoretisch ist es kompliziert: Gehen ist ein Sport im Niedergang. Das will der Berliner Geher André Höhne ändern

Von Torsten Hampel

Hohenschönhausen ist kein Ort, an dem Niederlagen vorbereitet werden. Hier werden Triumphe gezüchtet, Siege von Menschen über ihre eigenen Körper, über ihre Lungen, Herzen, Kniegelenke, über Muskeln, Hirne und über Schmerzen. Strenge Männer in Trainingsjacken wachen darüber, Respektspersonen. Sie stehen unter einem grauen Frühjahrshimmel und lassen Blicke schweifen, sie halten Stoppuhren in ihren Händen oder Metermaße.

Einer der Männer, Trainingsjacke in Leucht-Orange am Leib, hinten ist das Wort „Deutschland“ aufgedruckt, steht etwas abseits von seinen Kollegen. Auch er schaut und wacht, er maßregelt und ermuntert. Auch er will Siege sehen, über innere Schweinehunde und über Qualen. Darüber hinaus aber – eine Stoppuhr in der Hand, eine hängt vor seiner Brust – hat er noch etwas anderes im Sinn. Er will den Lauf der Zeit zurückdrehen. Er will eine Sportart vor dem Verschwinden bewahren. Das Gehen.

André Höhne ist Trainer, und das Sportforum in Berlin-Hohenschönhausen ist ein Zentrum des deutschen Leistungssports. Olympiasieger kommen von hier, Europa-, Welt- und Deutsche Meister. Spitzenathleten diverser Disziplinen, auch Höhne gehörte einmal dazu. Er war WM-Vierter in Helsinki im Jahr 2005, Fünfter 2009 in Berlin, Olympia-Achter in Athen 2004 und Elfter vor zwei Jahren in London. Er war nie ganz oben, aber stets vorn dabei. Er war der letzte deutsche Geher von Weltrang.

Nun steht er da wie angewurzelt am Rand einer Tartanbahn. Gelegentlich hält er sich eine der Uhren vors Gesicht, liest Zahlen davon ab, und manchmal ruft er dann: „Fünfneunzehn.“ „Fünfeinundzwanzig.“ „Fünfnulldrei.“ Hin und wieder macht er sich Notizen.

Blick auf die Uhr. „Fünfneunundzwanzig.“ Notizen. Fünfirgendwas. Höhnes Blick pendelt zwischen den Stoppuhren und der Sportplatzweite, zwischen den beiden Konstanten seines Lebens, und was er dabei sieht, das lässt ihn hoffen. Es ist vielleicht die Zukunft seiner Sportart in Deutschland, ein bisschen davon jedenfalls. Die Zukunft des hiesigen Gehsports, die längst nicht mehr vorgesehen zu sein schien. Gerade kommt sie wieder herangekeucht, die Uhr läuft mit. Fünf Minuten, so und so viel Sekunden, ruft Höhne. Er sieht einem Jungen beim Gehen zu. „Ein Talent“, sagt er. „Bewegungstalent, Belastungstalent, Wollenstalent, alles da.“

Vordere Stützphase, hintere Stützphase, Schwungphase - Gehen ist kompliziert

Es ist kalt auf dem Platz, und über das Gesicht der Zukunft läuft der Schweiß. Höhne ruft seine Zahlen, die Zieleinlaufzeiten sind, verstrichen während jeweils eintausend Meter langen Übungsläufen.

Jakob heißt der Junge, er ist 16 Jahre alt und umrundet den Platz in diesem eierigen, irgendwie entenhaften Geher-Gang, der Konzentration erfordert und dem anzusehen ist, wie unbequem, wie unnatürlich, wie anstrengend er ist.

Trainingslehrbücher und Regelwerke beschreiben eine vordere „Stützphase“ und eine hintere, die in eine „Doppelstützphase“ münden sollten. Dazu gibt es die vordere und die hintere „Schwungphase“. Sie alle kommen vor in diesem Gang, bei jedem Schritt. Das Becken bewegt sich um die „Längs- und Tiefenachse“. „Widergleich“ – also entgegengesetzt – haben dies auch Schultern und die Arme zu tun.

Die Kraft des Ostens: Beim 50-Kilometer-Gehen der Europameisterschaft in Rom ist der westdeutsche Geher Bernd Kannenberg (2.v.l) von der Konkurrenz aus dem Osten regelrecht umzingelt - v.r.: Christoph Höhne (DDR), Otto Barch (UdSSR), Peter Selzer (DDR), Veniamin Soldatenko (UdSSR)
Die Kraft des Ostens: Beim 50-Kilometer-Gehen der Europameisterschaft in Rom ist der westdeutsche Geher Bernd Kannenberg (2.v.l) von der Konkurrenz aus dem Osten regelrecht umzingelt - v.r.: Christoph Höhne (DDR), Otto Barch (UdSSR), Peter Selzer (DDR), Veniamin Soldatenko (UdSSR)
© imago/Werner Schulze

Wer diese Bücher liest und merkt, wie schwer sich schon die Sprache damit tut, die Sportart Gehen verstehbar zu machen, der hat schon viel über die Gründe ihrer Unattraktivität gelernt. Gehern wie Jakob beim Trainieren zuzusehen, gibt den allermeisten, vielleicht noch unschlüssigen Leistungssportaspiranten dann den Rest.

„Es ist echt schwierig“, sagt Höhne. „Die Kinder heute, wenn sie überhaupt noch ernsthaft Sport machen wollen, die gehen zum Fußball. Oder wenn die Eltern sie dann doch zur Leichtathletik schicken, sollen sie Sprinter werden. Da kannste zehnmal sagen: Der wird kein Sprinter, der ist zu langsam.“ Höhne ist Jahrgang 1978, in seiner Kindheit sei das noch anders gewesen, sagt er. Er sagt: „Da galt: Hauptsache zum Sport, egal welcher.“

Dass er seit seinem Laufbahnende in Hohenschönhausen als einziger, nur mit Gehern beschäftigter Trainer arbeiten kann, und dass seine Trainingsgruppe mittlerweile 15 Mitglieder hat, hält er manchmal selbst für ein Wunder. „Aber das zeigt ja, dass es vielleicht nicht ewig abwärts geht.“

In Richtung Keller, ins Halbdunkel unterwegs, ist das Gehen schon lange. Bei Großwettkämpfen wie Olympischen Spielen oder Leichtathletik-Weltmeisterschaften wird es oft an die Randzeiten gedrängt, die Geher gehen im Schatten von 100-Meter-Sprintern und Marathonläufern, von berühmten Namen wie Carl Lewis oder Usain Bolt, von Haile Gebrselassie oder Abebe Bikila. Aber wer kennt schon einen Geher? Und – so ganz allgemein – wer geht heute schon noch?

Der Durchschnittsdeutsche geht kaum 1000 Schritte am Tag

Sozialmediziner der Berliner Charité verbreiten Zahlen, nach denen beispielsweise eine Telefonistin auf durchschnittlich 1200 Schritte am Tag kommt, ein Grafiker auf 1400, ein Verkäufer auf 5000. Wissenschaftler der Deutschen Sporthochschule Köln sagen, dass der Durchschnitt in Deutschland noch darunter liegt. 800 bis 1000 Schritte pro Kopf und Tag sollen es sein. Das ist nicht einmal ein Kilometer.

Die Zahlen legen nahe, dass die Durchschnittsdeutschen nicht einmal mehr regelmäßig spazieren gehen. Denn der Durchschnittsspaziergang dauert nach Expertenmeinungen aus Sport und Tourismus ungefähr zwei Stunden und ist etwa fünf Kilometer lang. Wer beispielsweise am morgigen Ostersonntag einen macht, dürfte sich die folgende Woche gar nicht mehr bewegen, um auf 1000 Durchschnittsschritte pro Tag zu sinken.

Warum gehst du, Jakob?

„Ich will mich mit anderen messen“, sagt er. Aber dann auch noch: „Wie das in anderen Sportarten auch ist.“

Und warum treibst du keine andere Sportart?

„Ich sehe keinen Grund dafür.“

Es ist wie mit den Trainingsbüchern. Sprache kann nicht alles erklären.

Vor allem dann nicht, wenn einem Fragen wie diese direkt nach einem 1000-Meter-Tempolauf gestellt werden, mitten hinein in die Pause. Ins Atemholen. Eine Minute hat Jakob jeweils dafür, dann muss er weiter. Weitereiern.

Nach Olympia 2012 hat Höhne aufgehört, aber wann die Schmerzen kommen, weiß er noch

Höhne hat auf diese Art und Weise, so schätzt er, bis zu 8000 Kilometer im Jahr zurückgelegt. Sein Karriereende ist noch keine zwei Jahre her, und er weiß auch deshalb ziemlich genau, was sich gerade in Jakobs Körper abzuspielen beginnt, warum der Junge bald nicht mehr kann.

Zwei Tage zuvor ist Jakob zum ersten Mal in seinem Leben über die 15-Kilometer-Distanz gegangen, er hat sich noch nicht wieder davon erholt. Dazu kommt, dass das Gehen auch eine Art Kopfsport ist, und Jakobs Kopf ist mit jeder weiteren Sportplatzrunde immer weniger in der Lage, die Beine zum Weitermachen zu bewegen. Der Kopf, der beim Gehen deshalb besonders gefordert ist, weil er dem Rest des Körpers nicht nur das Durchhalten befehlen muss, sondern dabei auch immer auf die Technik zu achten hat. Auf die Stützphasen, die Schwungphasen, auf das unbedingt zu streckende, vordere Bein. Und immer mit einem Fuß Bodenkontakt halten, bloß nicht abheben. Das ist es, was das Gehen – im Vergleich zum Laufen, zum Rennen, wo man sich um Technikfragen nicht zwingend zu scheren hat – ab einer bestimmten Distanz sehr anstrengend macht.

Höhne hat sich früher in solchen Momenten immer selbst beschimpft. Bei 50-Kilometer-Wettbewerben setzten die so um den 35. Kilometer ein. „Selbstgespräche im Kopf habe ich dann geführt“, sagt er. „Nicht schon wieder Vierter! Nicht schon wieder Achter! Du Pfeife!“

Jakob kommt wieder ins Ziel. Es folgt wieder eine Minute Pause, in der der Junge zu Atem kommt und Höhne den Entschluss fasst, ihm die noch ausstehenden zwei 1000-Meter-Läufe an diesem Tag nicht mehr zuzumuten. Stattdessen will er es bei 400 Metern belassen, Ein-Runden-Distanzen, die aber fünf Mal hintereinander. Höhne sagt, er wolle ihm damit „kopfmäßig entgegenkommen. Gleiche Kilometer, aber mehr Pausen.“

Beim nächsten Zieleinlauf fragt Höhne: „Angenehmer jetze? Vom Befinden her?“ Er erntet ein Nicken.

Die Schmerzen von Hohenschönhausen sind dazu da, überwunden zu werden. Sie sind, darauf haben sich alle hier geeinigt, die Voraussetzung dafür, dass sich etwas an diesem Ort vorwärtsbewegt. Bei Jakob ist das schon gelungen. An diesem Apriltag steht bereits fest, dass er Mitte Mai zu den Deutschen Meisterschaften nach Naumburg fahren darf.

Gehen war früher eine garantierte Medaillen-Sportart der Deutschen

„Das ist eines meiner Ziele, kurzfristig“, sagt Höhne. „Den größeren Anteil der Gruppe zu Deutschen Meisterschaften zu bringen.“ Und langfristig?

„Vielleicht mal ’ne Junioren-EM. Und zumindest bei zweien bin ich ganz optimistisch, dass die zu ganz großen Wettkämpfen, zu Weltmeisterschaften fahren könnten. Einer, der hat Chancen, sogar Olympia zu sehen.“

Olympia, die Medaillenpodeste der Olympischen Spiele waren für zweieinhalb Jahrzehnte im vergangenen Jahrhundert einmal selbstverständliche Aufenthaltsorte für deutsche Geher. Die DDR-Sportler Christoph Höhne und Hartwig Gauder gewannen 1968 und 1980 Gold, der Bundesdeutsche Bernd Kannenberg gewann 1972. Der vorerst letzte Deutsche, der sich eine Olympiamedaille erging, war Ronald Weigel im Jahr 1992. Es war die bronzene.

Von Höhnes Schützlingen hat keiner diese Momente erlebt. Sie sind zwischen elf und 23 Jahren alt, Zeitalter entfernt von damals. Vielleicht macht so ein Abstand gelassen. Verbissen ist aus der Gruppe jedenfalls keiner, nicht an diesem Apriltag und auch nicht an Tagen im Februar und im März, als sie in einer Halle trainierten. Wer diese Kinder und jungen Erwachsenen beobachtet, trifft stattdessen auf ziemlich selbstständige und ernsthafte Menschen, die in der Lage sind, eineinhalb Stunden am Stück Leistungssport zu betreiben, ohne dass sie von ihrem Trainer viel mehr gesagt bekommen als Stoppzeiten. Er muss ihnen keine Anweisungen geben, und auch keine Befehle. Das Maximum an Strenge an diesem Apriltag ist ein hingeworfenes „kein Kommentar“, begleitet von hochgezogenen Augenbrauen. Julius, ein 18-Jähriger, war in kurzem Sportzeug auf dem Platz erschienen, er habe nicht gewusst, dass draußen trainiert werde. Hinterher wird Höhne einem Kollegen kurz davon berichten und sagen, dass es sich dabei um eine „Kaderansprache“ gehandelt und Julius schon verstanden habe. Kaderansprache heißt so viel wie: Rausschmissandrohung. Es wäre, sollte es irgendwann tatsächlich dazu kommen, wieder ein Geher weniger Deutschland.

Wie nachhaltig und unumstößlich dieser Geher-Schwund tatsächlich ist, kann man beim Deutschen Leichtathletik-Verband erfahren. Sie führen dort zwar keine Statistik über die Zahl der Aktiven, dafür aber eine Jahresbestenliste. Im Jahr 2001 verzeichnete die 13 Sportler, die einen 50-Kilometer-Lauf bestritten haben, 2013 waren es noch fünf. Es scheint, als komme Höhne zur allerhöchsten Zeit.

Wie wird man Geher, Herr Höhne?

„Über Umwege. Ich jedenfalls.“

Höhne war anfangs Schwimmer, mit Ambitionen. Dort wurde er aber in der sechsten Klasse ausgemustert, nachdem Wissenschaftler seinen Körper vermessen und berechnet hatten, dass er mit 18 Jahren nur 1 Meter 75 groß sein würde. Das war zu klein fürs Leistungsschwimmen. Am Ausmusterungstag gab es wieder Besuch, diesmal von Trainern anderer Sportarten, die auf Talentsuche waren. Höhne wurde Leichtathlet, Läufer. Aber die Zeit drängte, weil das Aufnahmedatum für eine Sportschule näherrückte, es war absehbar, dass er deren Läufer-Norm nicht erreichen würde, also: Gehen. Dabei blieb es. Und mit 18 war er 1 Meter 86 groß.

Einige aus Höhnes Trainingsgruppe erzählen ähnliche Geschichten von abgebrochenen Schwimm- oder Läufer-Karrieren, manchmal spielen auch Verletzungen eine Rolle. Es macht den Eindruck, als müsse man schon mindestens einmal versehrt worden sein oder gescheitert, um zum Gehen zu taugen.

Höhne hält das sogar für förderlich. Da sei der Charakter schon besser geformt, sagt er, Rückschläge gehörten zum Leistungssport, ohne sie fehle Entscheidendes. Und außerdem: Schlimm sei etwas ganz anderes.

Höhne, der gelegentlich auf Jugend-Crossläufen nach Bewegungs-, Belastungs- und Wollenstalenten sucht, erzählt von den Erlebnissen seiner Trainerkollegen, die regelmäßig dem Sportunterricht an Schulen beiwohnen. „Die erzählen“, sagt Höhne, „die Kinder können keine Rolle mehr.“ Keine Rolle? „Ja, Vorwärtsrolle. 70, 80 Prozent können das nicht.“ Sie könnten auch nicht rückwärts laufen, ohne hinzufallen. Oder bergan. „Mit acht Jahren!“

Es gibt Studien, die diese Entwicklung durchaus bestätigen. So brauchen Kinder heute 90 Sekunden länger, um eine Meile – 1,6 Kilometer – zu laufen, als ihre Altersgenossen vor 30 Jahren. Und es passt ja auch: Das müssen die Kinder der 1000-Schritte-Menschen sein, der Gegenpol zu Höhnes Trainingsgruppe, die dann folgerichtig zu einer Elite gehört. Zu den Menschen, für die Goethes Osterspaziergangszeile „Aus dem hohlen finstern Tor / Dringt ein buntes Gewimmel hervor“ noch einen Sinn ergibt. Zu den Menschen, die gehen können.

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