zum Hauptinhalt
Ossi, Wessi oder: Wen interessieren solche Zuschreibungen eigentlich?
© picture alliance / dpa

„Ich könnte manchmal verzweifeln“: Fünf Lehren aus dem Osten zur Stärkung der Demokratie

Die Ossis sind demokratiemüde oder die Wessis sprechmüde? Wir sollten uns lieber endlich mal kennenlernen. Fünf Lehren aus Thüringen. Ein Gastbeitrag.

Anja Siegesmund, geboren 1977 in Gera, ist Grünen-Politikerin. Seit 2014 ist sie in Thüringen Ministerin für Umwelt, Energie und Naturschutz

Als Brandenburg und Sachsen gewählt hatten, gab es danach Verurteilungen, weil die blauen Flecken auf der Landkarte immer stärker eine zerrissene Republik dokumentieren. Der Osten sei demokratiemüde, lautete die gängige Erklärung. Stimmt sie? Karte und Gebiet, Urteil und Abgesang? Mich schmerzt das.

Es gibt diese Sehnsucht nach Vereinfachung in unserer komplexen Welt, und jeden Tag sind wir alle gefordert, dieser Versuchung zu widerstehen. Wir müssen aufhören, so zu tun, als gäbe es für alles und jedes eine einfache Erklärung. Das beginnt bei unserer Sprache. Den einen Osten gibt es nicht. Die fünf Länder sind so vielfältig wie ihre Namen. In Weimar steht die Wiege des Bauhauses, in Dessau erblühte die Ideenschule erneut, um dann durch die Nazis in Berlin zerschmettert zu werden. Wo waren jetzt noch mal Weimar und wo Dessau? Genau.

Es gibt den gemeinsamen Ausgangspunkt Osten. Er steht für: die brachiale und jahrzehntelange Teilung eines Landes. Die Erwartungen Tausender Menschen, die in Unfreiheit lebten und sich anstrengten, trotz der Widrigkeiten des Systems ein gutes Leben zu führen, friedlich demonstrierten und so Freiheit mutig erkämpften. Ihre Wege, Erfolge und ihr Scheitern. Ihr Einlassen auf einen Systemwechsel und die Geschichte der alten Bundesrepublik. Der riesige Veränderungsdruck, das Implodieren alter Gewohnheiten und die Kraftanstrengung neuer Möglichkeiten.

Demokratie als Theorie top, in der Praxis nicht immer

Also drängen neue Fragen des Perspektivwechsels auf: Was wissen wir wirklich übereinander, was wissen Sie über die Geschichte der DDR? Haben wir uns gegenseitig kennengelernt in diesen 30 Jahren – oder ist nicht noch etwas offen?

Ich könnte manchmal verzweifeln an der Sprechmüdigkeit, der gegenseitigen Interesselosigkeit, die so viel weniger thematisiert wird als die angebliche Demokratiemüdigkeit im Osten. Die so auch nicht stimmt, ich wiederhole mich da gern. Auch bei mir in Thüringen stimmt in Umfragen die überwiegende Mehrheit der Aussage zu, dass die Demokratie „die beste aller Staatsideen“ ist. Weniger Zustimmung gibt es bei der Zufriedenheit mit der Demokratie in der erlebten Praxis. Ist das irgendwo anders?

Demokratiezufriedenheit ist nichts, was mit Geld gekauft wird oder mit Wirtschaftsstatistiken gemessen werden kann. Sozioökonomisch betrachtet geht es den Menschen in Gelsenkirchen heute schlechter als jenen in Leipzig. Müsste dann nicht vom sozialen Gefälle in unserer Republik eher die Rede sein als vom abrutschenden „Osten“?

Nachdem nun in unzähligen Artikeln aus Büros in Hamburg, Hessen oder Bayern über den Osten geschrieben wurde, samt ökonomischer und gesellschaftspolitischer Argumente, gibt es die längst überfällige Debatte, wo unsere Demokratie stark und wo sie verwundbar ist, ja wer sich abgeschrieben fühlt.

Unsere Demokratie ist niemals „fertig“

Jetzt ist landauf, landab der Zeitpunkt, raus aus der Komfortzone zu kommen und sich um unsere gemeinsame Zukunft zu bemühen. Denn der Transformationsprozess der Wirtschaft und eine Garantie für kommunale Daseinsvorsorge im ländlichen Raum sind keine Frage von Ost oder West, sondern im ganzen Land eine gemeinsame Herausforderung.

Richtig ist: Bei mir in Thüringen ist die Arbeitslosigkeit heute unter fünf Prozent und das Einkommensniveau deutlich gestiegen. Wir sind die erfolgreiche Transformationsregion, die andere nach Kohleausstieg und Dekarbonisierung gerne wären. Während sich die ganze Republik den Kopf zerbricht, was aus den 20.000 Kohlekumpeln werden soll, sind wir bei über 60.000 Beschäftigten alleine in der Umweltwirtschaft zukunftsfähig aufgestellt. Aber gutes Leben braucht mehr. Wir sollten mehr über unsere Erfolge reden und auch über folgende fünf Lehren:

1. Unsere Demokratie ist niemals „fertig“, sie muss jeden Tag neu errungen werden. Überall. Die friedliche Revolution war kein Geschenk, sondern hart errungen. Und unsere freiheitlich-demokratische Grundordnung erfährt erst durchs Zuhören und Mitmachen ihre Stärke. Klare Kante gegen die Demokratiefeinde gehört dazu. Die Kraft der „Unteilbar“-Demonstration in Dresden eine Woche vor der Sachsen-Wahl war unbeschreiblich. Sich mit Herz und voller Überzeugung gegen die Ewiggestrigen und Demokratiefeinde zu stellen und für unsere Freiheit zu kämpfen ist unser aller Aufgabe.

2. Ja, es besteht weniger Vertrauen in staatliche Vorsorge, und Sozialbindungen werden brüchiger. Das findet seinen Ausdruck auch in radikaleren politischen Ansichten. Tatsächlich verbuchen rechtsextreme und rechtspopulistische Parteien überdurchschnittliche Stimmenanteile in jenen Regionen, in denen Wirtschaftskraft und Einkommensniveau eher niedrig sind, wo Leistungen der öffentlichen Daseinsvorsorge immer stärker infrage stehen. Deshalb braucht es heute mehr und nicht weniger Investitionen. Unser Ziel müssen republikweit gleichwertige Lebensverhältnisse sein. Lebenswerte Regionen kennen keine Versorgungsprobleme wie fehlende Internetanschlüsse, mangelnden Zugang zur Gesundheitsversorgung oder Haushaltssperren. Die Zukunft beginnt jetzt, und zwar mit klugen Investitionen – unterstützt durch den Bund.

Aus dem Todesstreifen wurde eine Lebenslinie

3. Es gibt Erfahrungen des Abgehängtseins und des Verlusts von Lebensqualität, weil in kleinen Dörfern der Bus nicht mehr hält, der Dorfladen geschlossen ist und die Jüngeren weitergezogen sind. Es gibt aber auch ermutigende Gegenbeispiele. Die Dörfer, die Städte, die Landkreise sind Keimzellen der Demokratie. Ihre Zukunft entscheidet sich vor allem durch die Arbeit der Kommunen und das Mitwirken ihrer Bürgerinnen und Bürger. Es gilt, vor Ort Ansätze zu entwickeln, um Rechtspopulismus und der Hoheit von einfachen Stammtisch-Antworten für unsere komplexe Welt entschieden zu begegnen. Wichtiger denn je sind dabei intakte öffentliche Räume und Institutionen, in denen man sich um die Zukunft austauschen und streiten kann, in denen man gemeinsam nach Lösungen sucht.

4. Lernen wir von den Transformationserfahrungen in Brandenburg, Sachsen, Thüringen, Sachsen-Anhalt und Mecklenburg-Vorpommern! Die dortige Generation 40+ erlebt den permanenten Veränderungsdruck besonders geballt: Arbeitswelt, soziale Beziehungen, Identifikation und sozioökonomische Verhältnisse veränderten sich in einem rasanten Tempo. Die kommenden Transformationsprozesse der Digitalisierung, der Dekarbonisierung unserer Wirtschaft und der Veränderung unserer Arbeitswelt halten die Gesellschaft darüber hinaus weiter in Bewegung.

5. Zur Erinnerung an die überwundene Teilung reicht nicht allein eine Wippe in Berlin. Das größte Friedensprojekt ist Europa. Und die alte Teilung noch erlebbar entlang der ehemaligen Grenze. Der Todesstreifen von damals ist heute grüne Lebenslinie. Als Nationales Naturmonument nicht nur in Thüringen, sondern ganz Deutschland wäre das Grüne Band als gemeinsamer Erfahrungsort für gestern und heute angemessen geschützt.

Zur Startseite