35. Evangelischer Kirchentag in Stuttgart: Fremd im eigenen Land - und Glauben
Seinesgleichen zu lieben, ist relativ leicht. Ist es das? Dort, wo das Christentum wächst - wie in Asien und Afrika - ist es charismatisch, pietistisch oder evangelikal geprägt. Für liberale europäische Protestanten, deren Zahl rückläufig ist, könnte das zur Herausforderung werden.
Wie viel Fremdes verträgt der Mensch? Diese Frage überwölbt zwei Themen, die im Fokus des 35. Deutschen Evangelischen Kirchentages stehen. Da ist zum einen die Vielfalt in der Liebe, für die die Zentren „Gender“ und „Regenbogen“ stehen. Da ist zum anderen das Thema Flüchtlinge, das für beide christliche Kirchen bis in die Praxis der Gemeinden hinein von akuter Relevanz ist. Die Botschaft der Bibel heißt: Wer einen Fremden aufnimmt, nimmt Jesus auf und kommt Gott ganz nahe. Das lässt keinen Zweifel an den Geboten der Offenheit, Hilfe und Toleranz.
Die Bewährungsprobe dieser Gebote beginnt allerdings früher. Nämlich bei der Frage: Wie viel Fremdes verträgt der Mensch, wenn es ihm fremd bleibt? Gewissermaßen als Urtyp der Differenz gelten die Geschlechter Mann und Frau. Im Rahmen der Genderforschung ist diese Differenz nivelliert worden. Darüber beschweren sich inzwischen nicht nur Entmannte, sondern auch Entfraute. Feministinnen kritisieren, dass sich das Subjekt des Feminismus, die Frau, aufgelöst habe. Wer Fremdheit leugnet oder weginterpretiert, löst aber das Problem der Toleranz nicht. Seinesgleichen zu lieben, ist relativ leicht.
Ist es das? Als ihresgleichen betrachten Christen oft andere Christen. Nach Stuttgart kommen Protestanten aus ganz Deutschland und aus vielen Teilen der Welt. In zwei Jahren wiederum findet das große Reformationsjubiläum statt, zu dem Millionen evangelische Christen erwartet werden. Dann erst wird sich erweisen, was christliche Solidarität als „Gemeinschaft der Heiligen“ heißt und ob sie stärker ist als das Trennende.
In Europa nimmt die Zahl der Christen kontinuierlich ab
Den Trend der globalen religiösen Entwicklung hat vor Kurzem das renommierte Forschungsinstitut Pew Research Center ermittelt. Demnach nimmt in Europa die Zahl der Christen kontinuierlich ab, während die der Konfessionslosen moderat steigt, bei anhaltender Säkularisierung und Liberalisierung. Das kräftigste Wachstum dagegen verzeichnet das Christentum in Asien und Afrika. In absoluten Zahlen gemessen könnte etwa China in einigen Jahren das größte christliche Land der Welt sein, und wegen der hohen Fertilitätsraten werden im Jahre 2050 rund 40 Prozent aller Christen in Schwarzafrika leben. Dort aber, wo das Christentum wächst, ist es vornehmlich charismatisch, pietistisch oder evangelikal geprägt.
Wie viel Fremdes verträgt der Mensch? Wenn deutsche Kirchentagsliberalität dereinst in Wittenberg auf konservatives Geschlechterverständnis, pfingstkirchliche Erweckungspredigt und dogmatische Bibelauslegung trifft, wird der Zusammenprall der Kulturen womöglich heftiger ausfallen als im Begegnungszentrum für Flüchtlinge aus Syrien.