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Hubert Aiwanger (r) und Joachim Streit, von den Freien Wählern, zeigen die Verfassungsbeschwerde gegen das Infektionsschutzgesetz.
© Kay Nietfeld/dpa

Alternative zur Alternative: Freie Wähler sehen sich schon im Bundestag

Bei den Landtagswahlen im März waren die Freien Wähler überraschend stark. Haben Sie Chancen auf den Einzug in den Bundestag? Eine Analyse.

„Wie funktioniert das denn jetzt hier? Wann darf ich meine Maske absetzen?“, fragt Hubert Aiwanger die Vorsitzende der Bundespressekonferenz. Und: „Wann bin ich dran mit reden?“ Aiwanger, Chef der Freien Wähler, kennt sich noch nicht aus. Er war noch nie Redner bei der Bundespressekonferenz. Doch vergangene Woche spricht er hier stolz über die Verfassungsbeschwerde, die seine Partei gegen die Corona-Notbremse einreicht.

„Das Gesetz ist demokratiegefährdend“, sagt er. Entscheidungen über Ausgangsbeschränkungen sollten in den Regionen getroffen werden und nicht automatisiert vom Bund. Sie seien nach Berlin gekommen, um die Freiheiten der Bürger dieses Landes zu verteidigen. Mit der Beschwerde kann Aiwanger nicht nur auf die Stärken der Freien Wähler in den Regionen hinweisen, sondern auch endlich in der Bundespolitik mitmischen.

Bis Anfang des Jahres hätte das dieser Partei wohl niemand zugetraut. Bisher kamen sie im Bund nur auf ein Prozent der Stimmen. Aber im März erhielten die Freien Wähler (FW) bei der Landtagswahl nicht nur drei Prozent der Wählerstimmen in Baden-Württemberg, sondern sie konnten in Rheinland-Pfalz erstmalig die 5-Prozent-Hürde knacken und als sechste Kraft in den Landtag einziehen.

Zudem sind sie in den Landtagen von Brandenburg und Bayern vertreten. Dort sind sie am erfolgreichsten. Seit 2018, als sie 11,6 Prozent der Stimmen bekamen, sind sie Teil der Koalitionsregierung von Ministerpräsident Markus Söder (CSU).

Jetzt will die junge Partei auch bei der Bundestagswahl überraschen. Dabei haben sie es besonders auf Unionswähler und Unionswählerinnen abgesehen. Das Problem für die Union und ihren Kanzlerkandidaten Armin Laschet (CDU): Sie müssen sehen, dass sie vor den Grünen landen. Die Freien Wähler könnten aber ihren Teil dazu beitragen, dass der Union entscheidende Stimmen fehlen – und schon könnte die Kanzlerin Annalena Baerbock heißen.

Kein konservativer Kurswechsel

„Wir sehen, dass die Leute mit Merkels Politik nicht mehr zufrieden sind und es sieht auch nicht so aus, als würde es mit dem neuen Kanzlerkandidaten einen konservativen Kurswechsel geben. Die Menschen, denen bürgerliche Werte wichtig sind, wählen jetzt die Freien Wähler“, sagt Aiwanger, der bei der Bundesdelegiertenversammlung im Mai als Spitzenkandidat antritt. In Bayern ist er Wirtschaftsminister und Vize-Ministerpräsident.

Viele Stammwähler würden sich von der Union abwenden und die Freien Wähler würden auch von Frauen und jungen Menschen als moderne Partei angesehen werden. „Ich denke, die Chancen für uns in den Bundestag einzuziehen, stehen mindestens 50 zu 50.“

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Der Politikwissenschaftler Uwe Jun von der Uni Trier sieht das anders, zumindest in Bezug auf Fünf-Prozent-Hürde bei der Bundestagswahl. „Aktuell sind die Chancen doch eher gering“, sagt er. „Natürlich hat die Partei durch den Erfolg in Rheinland-Pfalz einen starken Aufwind bekommen, aber das hatte auch regionale Gründe. In den ländlichen Gegenden sind sie stärker, in urbanen Zentren tun sie sich schwer“, sagt Jun.

Dafür hätten sie das Potential, neben FDP, CDU und Nichtwählerstimmen die Stimmen aus dem gemäßigten AfD-Lager zu bekommen, sagt Jun. „Durch die Flügelkämpfe in der AfD und das deutlich radikalere Programm, das sie zur Bundestagswahl vorgestellt haben, könnten sie einige bürgerliche Wähler:innen verschreckt haben. Für solcherlei Gruppen sind die Freien Wähler eine gute Anlaufstelle.“

"Brandmauer" gegen die AfD

Der rheinland-pfälzische Spitzenkandidat der Freien Wähler, Joachim Streit, sieht seine Partei rechts von der CDU und bezeichnet sie auch als „Brandmauer gegen die AfD“. Aiwanger ist sich sicher, wenn seine Partei nicht im bayerischen Landtag vertreten wäre, wäre die AfD dort ein paar Prozentpunkte stärker. Die Freien Wähler könnten enttäuschte CDU- oder SPD-Wähler:innen davor abhalten, ihr Kreuz bei der AfD zu machen, glaubt er. „Bevor die Leute Unsinn wählen, sollen sie uns wählen.“

Punkten wollen die Freien Wähler vor allem mit ihrer Kritik an der Regierungspolitik und den Corona-Maßnahmen von Bund und Ländern. Aber reicht das, um im Bund auf fünf Prozent zu kommen? Nein, meint Jun. Aiwanger schielt neben Unions-Stimmen vor allem auf das FDP-Lager. Die Freien Wähler seien aber wertkonservativer und mittelstandsnäher als die Liberalen. „Die FDP ist eher die Nadelstreifenpartei, die mit Vertreterinnen und Vertretern großer Konzerne Kaffee trinkt, während wir uns auch um den Mittelstand und das Handwerk kümmern.“

Landtagswahl in Sachsen-Anhalt als Härtetest

Der nächste Härtetest ist die Landtagswahl in Sachsen-Anhalt am 6. Juni. „Wir gehen davon aus, dass wir es in Sachsen-Anhalt dieses Mal packen“, sagt Aiwanger. „Und wenn es in Sachsen-Anhalt klappt, ist für den Bund alles offen.“ Der Politologe Jun schätzt, dass die Freien Wähler dort besser abschneiden könnten als im Bund. „Die FDP ist dort in keiner guten Verfassung und auch in der CDU gibt es viele Auseinandersetzungen.“

Dazu komme die Stärke in den Kommunen, die der Partei auf Landesebene mehr hilft als auf Bundesebene. Schließlich hat die Partei ihre Wurzeln in der Lokalpolitik. Die Bundesvereinigung der Freien Wähler wurde 2010 vom Bundesverband der freien Wählergemeinschaften gegründet. In regionalen Gruppen mit teils unterschiedlichen Bezeichnungen treten sie schon seit den 1950er Jahren bei Landtagswahlen an.

Aiwanger ist in Bayern bekannt

Aiwanger will das Zugpferd sein, er ist zwar in Bayern bekannt, doch kaum darüber hinaus. „Sie waren bisher immer dann erfolgreich, wenn sie einen in der Region bekannten Spitzenkandidaten hatten. Das ist aber im Bund nicht der Fall“, sagt der Politologe Jun. Doch eine prominentere Person als Aiwanger haben die Freien Wähler nicht vorzuweisen.

Der sagt, die kleineren Koalitionspartner hätten es immer schwerer. „Wo soll die Bekanntheit auch herkommen? Ich bin ja kein Fernsehstar. Aber ich habe immerhin zwölf Jahre Landtagserfahrung und ein paar Jahre Regierungserfahrung als Minister und wir haben uns innerhalb von kurzer Zeit seriös hochgearbeitet.“

Sollten sie es doch in den Bundestag schaffen, möchte Aiwanger dort drei Themen nach vorne bringen: das Verbot von Konzernspenden an Parteien, das Ende der Rentenbesteuerung und Wasserstoff als Energieträger der Zukunft. „Ich sehe da ganz großes Potential, wie wir die Klimafrage beantworten und gleichzeitig Arbeitsplätze auf dem Land schaffen können.“ Ein weiteres Ziel ist, eine Regierungsbeteiligung der Grünen zu verhindern – und im besten Fall sogar mitzuregieren, gemeinsam mit Union und FDP.
Dieser Artikel wurde aktualisiert am 26. April.

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