Flüchtlinge in Deutschland: Familiennachzug scheitert oft an Behörden
In Deutschland anerkannte Flüchtlinge haben einen Recht darauf, Ehepartner und minderjährige Kinder nachzuholen. Doch diese benötigen ein Visum dafür - was wegen überlasteter Botschaften schwierig ist.
Ein kleiner Raum in einem Beratungszentrum für Flüchtlinge auf der Berliner Turmstraße. Drei Männer treten zögernd in das halb dunkle Zimmer, grüßen die Anwesenden auf Arabisch und nehmen Platz am Tisch. Dort sitzt schon ein blasser, schlanker Mann, er hält eine große Mappe in seinen Händen. Nervös klappt er sie auf, blättert, liest und schlägt sie schnell wieder zu. Sein ganzes Leben scheint in dieser Mappe zu stecken. Gegen 19 Uhr betritt der Leiter des Beratungszentrums den Raum. Er schließt die Tür. Nun ist man unter sich. Knapp 30 Syrer und zwei deutsche Mitarbeiter. Die Flüchtlinge verbinden nicht nur ihre Heimat- und Fluchtgeschichten. Sie wollen auch alle ihre Liebsten aus dem Bürgerkriegsland nach Deutschland holen. Aber wie? Darum geht es an diesem Tag.
Nach dem Aufenthaltsgesetz haben anerkannte Flüchtlinge Anspruch auf Familiennachzug. Sie können Angehörige wie Ehepartner und minderjährige Kinder unter erleichterten Bedingungen zu sich nach Deutschland holen. Nicht aber Eltern oder Geschwister. Stellt man den Antrag innerhalb von drei Monaten nach der Anerkennung als Flüchtling, sind Nachweise zum Lebensunterhalt und ausreichendem Wohnraum nicht erforderlich. Doch trotz dieses klaren Rechtsanspruchs gibt es immer wieder Verzögerungen.
Im Beratungszentrum können die Flüchtlinge über ihre Ängste und Hoffnungen sprechen. Sie wollen erzählen, sich von den ständig rotierenden Gedanken befreien, sich beraten lassen. Ohne Beamte und Prüfungskommission. Die Runde eröffnet ein 50-Jähriger. Er atmet tief ein und schluckt leer. Dann presst er einen Satz heraus: „Mein Name ist Rami, und ich möchte meine Familie nach Deutschland bringen.“ Pause. Der Rest fließt auf Arabisch.
Die deutsche Botschaft in Syrien ist seit Anfang 2012 geschlossen
Seit Februar ist Rami als Flüchtling anerkannt, er darf seine Frau und drei minderjährige Kinder aus Syrien holen. Um die dreimonatige Frist zu wahren, hat er als Erstes den Familiennachzug bei der Ausländerbehörde beantragt. Seine Familie wiederum braucht einen Termin bei der Deutschen Botschaft. Die Botschaft in Syrien ist wegen des Bürgerkriegs seit Anfang 2012 geschlossen. Ramis Familie muss nach Istanbul, um das Visum zu beantragen. Aber um überhaupt die Unterlagen bei der Botschaft einreichen zu können, braucht die Familie zunächst einen Termin.
Doch wegen der hohen Anzahl der Visumanträge sind die deutschen Auslandsvertretungen in der Türkei, im Libanon und in Jordanien überlastet. „Der potenzielle Familiennachzug von zahlreichen neuen Asylbewerbern aus Syrien (allein im Juli 26 000) bringt die Auslandsvertretungen in der Region an die Grenze ihres Leistungsvermögen“, antwortet die Bundesregierung auf eine kleine Anfrage der Linkspartei.
Mit Wochenend- und Spätschichten arbeiteten die Auslandsvertretungen „am Rande des Möglichen“. Bei Terminvereinbarungen war bisher mit Wartezeiten bis weit ins Jahr 2016 zu rechnen. Ramis Familie hat ihren Termin im Deutschen Generalkonsulat in Istanbul sogar erst im November 2016. Arif kennt das. Seine Familie wartet seit einem Monat auf einen Terminvorschlag der Botschaft in Beirut. In der Türkei hat das Auswärtige Amt sein Personal inzwischen aufgestockt und bietet Antragstellern an, ihren Termin vorzuziehen, wie es in Berlin heißt. Die Umbuchung sei kostenlos.
Die Verfahren, um einen Termin in den deutschen Auslandsvertretungen in der Region zu bekommen, sind ganz unterschiedlich. In der Türkei sind Terminvereinbarungen nur über den privaten Dienstleister iDATA möglich, für fünf Euro pro Person. In Beirut können Familien seit April per E-Mail Termine beantragen. Das geht schneller als über das frühere Onlinesystem. Doch mittlerweile sind alle Termine bis Anfang Februar 2016 vergeben. Auch sind bei diesem Verfahren Leute ausgeschlossen, die keine Pässe besitzen, genauso wie volljährige Kinder, die auf Unterstützung angewiesen sind.
Wie bei Ibrahim, der aus Dschabla in Syrien geflohen ist. Seine Frau und der minderjährige Sohn bekamen vor zehn Tagen per E-Mail einen Termin bei der Deutschen Botschaft in Beirut. Doch die 22-jährige behinderte Tochter wurde auf das Onlineverfahren verwiesen. Ibrahims Frau hat ihren Termin daraufhin abgelehnt. Nun warten sie auf einen neuen, gemeinsamen Termin.
Um der langen Untätigkeit zu entgehen, nutzen viele Familien andere Wege. Trotz der Risiken wagen sie die Fahrt über das Mittelmeer, um auf eigene Faust die Familie zusammenzuführen. Oder sie versuchen es mit illegalen Mitteln: „Es gibt immer noch Betrüger in der Türkei und im Libanon, die Termine verkaufen“, sagt der 26-jährige Ali. Andere Syrer versuchen Grenzbeamte zu bestechen, um die türkisch-syrische Grenze zu überqueren.
Harun ist immer noch mit seiner Mappe beschäftigt. Er greift wieder nach ihr, schließt sie dann so umständlich, wie er sie geöffnet hat. Harun hat in Syrien seine Frau, zwei minderjährige Kinder und eine kranke Mutter gelassen. Letztere zählt nicht zur Kernfamilie. „Wer soll sich um sie kümmern, wenn meine Familie nach Deutschland kommt?“ Er hat keine Antwort. Und drückt die Mappe noch fester an sich.
Nane Khachatryan