Streit in der Union: Fall oder Rückzieher
Rasen Angela Merkel und Horst Seehofer aus Angst vor Gesichtsverlust in den Abgrund? Jedes Zucken im Mundwinkel des anderen kann zu neuer Eskalation führen.
Sein Platz bleibt leer. Also, rein technisch gesprochen sitzt Donnerstagfrüh schon jemand auf dem Stuhl in der Regierungsbank, der für den Bundesinnenminister reserviert ist. Aber politisch gesehen ist der Parlamentarische Staatssekretär Marco Wanderwitz natürlich kein Ersatz für Horst Seehofer, schon weil Wanderwitz aus der CDU kommt. Angela Merkel hält im Bundestag eine Regierungserklärung vor dem europäischen Gipfel, den die CSU ihr und sie selbst sich zum Schicksalsgipfel gemacht hat, und Seehofer hat Dringlicheres zu tun? Irgendwelche Termine und Pflichten im Ministerium, sagt eine Sprecherin.
Neulich die Fraktionssitzung hat der CSU-Chef auch geschwänzt – Vorbereitung auf den Koalitionsgipfel. Symbolisch gesehen kann man das für eine ziemliche Brüskierung halten. Es könnte allerdings auch ein Akt der Klugheit sein. So wie die Dinge stehen, kann jedes Zucken im Mundwinkel der einen oder des anderen zu Missverständnissen und neuen Aufwallungen führen. An Aufwallungen ist aber so schon kein Mangel, und Missverständnisse – die wären wirklich das Letzte, was CDU und CSU in diesen wilden Tagen brauchen können.
Merkel und die FDP - bahnt sich da etwas an?
Im Reichstag füllen sich die Reihen. Die Kanzlerin trägt einen giftiggrünen Blazer und die geschäftsmäßige Miene zur Schau, mit der sie dem Bundestag noch vor jedem EU-Gipfel die Tagesordnung von Brüssel verkündet hat. Bevor der Bundestagspräsident die Sitzung eröffnet, plauscht Merkel mit ihrem Fraktionschef Volker Kauder. Der FDP-Fraktionsmanager Marco Buschmann steht dabei und wird mit ein paar erkennbar freundlichen Bemerkungen geehrt. Merkel hat zwei Tage zuvor beim Sommerfest der Nordrhein-Westfalen schon einen netten Plausch mit Buschmanns Chef Christian Lindner gehalten und die schwarz-gelbe Regierung in Düsseldorf für ihr ruhiges Arbeiten gelobt.
Alles selbstverständliche Höflichkeiten, nur ist weniges selbstverständlich in Zeiten, in denen die SPD-Chefin Andrea Nahles der Koalition gleich eine „handfeste Regierungskrise“ bescheinigen wird. Merkel und die FDP – bahnt sich da etwas an, für alle Fälle? Lindner hat die Idee zurückgewiesen, für alle Fälle: Wenn es kracht, bitteschön Neuwahlen!
Dobrindt applaudiert nicht
Vorläufig kracht es aber nicht. Merkel redet erst einmal eine Viertelstunde lang über „neue Kommandostrukturen“ – die Regierungserklärung gilt schon mit für den Nato-Gipfel in zwei Wochen – und die Meseberg-Vereinbarung mit Frankreich. Nur versteckt findet der Aufgalopp zum eigentlichen Tagesthema statt. Die Kanzlerin zitiert das Grundgesetz: „...von dem Willen beseelt, als gleichberechtigtes Glied in einem vereinten Europa dem Frieden der Welt zu dienen ...“.
Die CSU, insbesondere in Person des Landesgruppenchefs Alexander Dobrindt, kriegt die Hände nicht hoch zum Applaus. Dobrindt hat diese ganze Geschichte ins Rollen gebracht, an der eine Regierung zerbrechen könnte und das tragende Parteienbündnis gleich mit. Er hat den kritischen Punkt in Seehofers „Masterplan Migration“ öffentlich gemacht, bevor selbst Merkel ihn kannte. Damit war der Weg zur stillen Einigung in der Regierung so gut wie verbaut.
Vor zwei Wochen war es wieder Dobrindt im Verein mit dem Bayern-Spitzenmann Markus Söder, der Merkel zum sofortigen Einlenken drängen wollte. Dass die Attacke an dem Tag scheiterte, liegt an Europa. Und an Söder.
Ellbogen rausfahren
Ausgerechnet der Bayer hatte Merkel den Hebel geliefert, mit dem sie ihre schwankende CDU wieder an sich binden konnte. Tatsächlich finden ja auch viele Christdemokraten, dass man den Seehofer doch diese Zurückweisungen an der Grenze machen lassen soll – die einen, weil sie so denken wie der Bayer, viele andere, weil sie den ewigen Streit leid sind. Aber dann hat der Berlin-Tourist Söder beiläufig eine der tiefsten Überzeugungen der Partei Konrad Adenauers und Helmut Kohls für Unsinn erklärt: Mit diesem „geordneten Multilateralismus“ müsse Schluss sein, da halte sich eh keiner in der EU dran, jetzt müsse Deutschland auch die Ellenbogen rausfahren.
Söder muss mitten im Satz erkannt haben, dass er eine Rieseneselei begeht. Er bringt den Satz nicht zu Ende, als wollte er den Spruch ungeschehen machen. Zu spät. Merkel musste die CDU gar nicht mehr auf den Baum treiben. Ein Europa der Egoisten – mit dieser Partei nicht! Aus dem Streit über ein Detail in einem 63-Punkte-Plan wurde ein Grundsatzkonflikt. Für Merkel war es die Rettung. Seither steht nicht die CDU-Chefin gegen eigene Truppen, sondern CDU gegen CSU.
Die Kanzlerin zählt alles auf
Um 9.18 Uhr kommt sie zur Sache. Wie es ausgeht beim Brüsseler Gipfel, darüber sagt Merkel nur, was eh jeder weiß: Die europäische Gesamtlösung der „Schicksalsfrage“ Migration wird auch dieses Treffen der Staats- und Regierungschefs nicht liefern. Aber dass seit drei Jahren nichts passiert sei, wie viele sagten (darunter, muss man hier gedanklich ergänzen, die CSU), das stimme nicht. EU-Türkei-Abkommen, die EU-Marinemission „Sophia“ im Mittelmeer, dazu national die Neuregelung des Familiennachzugs, die „Richtgröße“ genannte Obergrenze, die „Ankerzentren“ – Merkel zählt alles auf bis zurück zur Öffnung der Grenzen am 4. September 2015, die eben keine einseitige Aktion gewesen sei, sondern selbst in der „Ausnahmesituation“ mit Ungarn und Österreich abgesprochen.
Man könnte es auch kürzer fassen: Da will sich jemand die Politik der letzten drei Jahre nicht zum Fehlschlag erklären lassen. Dass bei der CSU immer noch welche so tun, als müssten sie ihr die frühe Willkommenskultur austreiben, dass die Christsozialen aus heiterem Himmel ein Geschrei angehoben haben, als stünden die Hunnen vor den Toren, obwohl die Flüchtlingszahlen gerade wieder auf das Niveau von ungefähr 2014 sinken, und das alles, weil in Bayern die Landtagswahl droht – das macht sie bockig. Über Kompromisse lässt Merkel immer mit sich reden. Über Unterwerfung nicht.
Seehofer sagt, er will keinen Sturz der Kanzlerin
Am Mittwochabend sitzt Horst Seehofer bei Sandra Maischberger im Studio und zeigt sich der frisch verkaterten Fußballnation von der leutselig staatsmännischen Seite. Nein, niemand in der CSU wolle die Regierung sprengen, die Fraktionsgemeinschaft auflösen, die Kanzlerin stürzen. Niemand wünsche sich mehr als ihr Innenminister, dass Angela Merkel vom EU-Gipfel Vereinbarungen mitbringt, die „wirkungsgleich“ zu den Zurückweisungen an der Grenze wären. Im Ziel sei man sich doch einig, diesen „Asyltourismus“ zu beenden, dass sich Flüchtlinge in Europa praktisch immer Deutschland als Asylland aussuchen könnten.
Frau Maischberger findet „Asyltourismus“ kein gutes Wort. Seehofer findet, Frau Maischberger neige zur Sprachpolizei. Frau Maischberger hält dagegen, das Wort vergifte das Diskussionsklima. „Ich zieh’ es zurück“, sagt Seehofer, kichert aber kurz dabei, so als meinte er den Rückzug nicht ernst.
Rückzüge sind sowieso das Hauptproblem. In der CSU-Führung sind sie fest davon überzeugt, dass Seehofers Rückzüge im Flüchtlingsstreit mit Merkel sie bei der Bundestagswahl die entscheidenden Punkte gekostet haben. Mit Klage gegen eine Herrscherin des Unrechts drohen und im Wahlkampf für sie werben – nie wieder, schwört einer wie Dobrindt, nie wieder dürfe das passieren. Seehofer nennt es eine „doppelte Glaubwürdigkeitsfalle“. Die Leute stünden vor ihm und sagten: Das höre sich ja alles schön an bei ihm – aber ob er’s in Berlin denn auch umsetzen könne? Deshalb, wenn er jetzt auf die Zurückweisungen verzichten würde, „dann hab’ ich eine echte Glaubwürdigkeitsproblematik“. Da sei dann Überzeugung wichtiger als Amt.
"So steht's im Grundgesetz"
In dem Moment steht sie im Raum: die Richtlinienkompetenz. Die Kanzlerin hat sie in Anspruch genommen, beiläufig fast, in einer Pressekonferenz nach der Vorstandssitzung im Konrad-Adenauer-Haus. Seehofer hörte in München davon, beiläufig. „Das ist emotional ein schwieriger Moment“, sagt er, als Vorsitzender einer Koalitionspartei erfährt man davon aus der Presse ... „Aber im Recht ist sie?“ fragt Maischberger kühl nach. „So steht’s im Grundgesetz“, sagt Seehofer.
Ein bemerkenswertes Eingeständnis. Alexander Dobrindt zum Beispiel hat noch vor zwei Tagen versucht, das lästige Ding beiseite zu räumen: Es gehe bloß um die Rückkehr zum vor 2015 geltenden Recht, er sehe keinen Zusammenhang zur Richtlinienkompetenz.
Daran ist aber zweierlei falsch. Erstens war vor dem Herbst 2015 geltendes Recht, dass es überhaupt keine Grenzkontrollen gab – ein aus durchsichtigen Gründen heute gern vergessener Umstand.
Zweitens ist Richtlinie, was eine Kanzlerin dazu erklärt. Sie wiederholt ihre Formel im Bundestag: „Nicht unilateral, nicht unabgestimmt und nicht zu Lasten Dritter“ zu handeln sei Maxime der Regierung. Das ist – Merkel bleibt Merkel – keine übermäßig scharf gezogene rote Linie, eher ein breit hingewischter Streifen mit ausfransenden Rändern. Aber als Minister die Grenze auszutesten, kann mit der Entlassungsurkunde enden. Auch für Merkel steht Glaubwürdigkeit auf dem Spiel oder, wie es Wolfgang Schäuble formuliert hat, „die Würde ihres Amtes“.
Dobrindt unterlässt neue Drohungen
Rasen also zwei Prinzipienreiter unaufhaltsam aufeinander zu? Aus Angst vor dem Gesichtsverlust in den Abgrund? Im Bundestag schießt sich die Opposition ein, auch die, die heimlich mit den Zähnen klappern beim Gedanken an Neuwahlen. Lindner – ja doch, der Jamaika-Lindner – preist plötzlich den Wert einer stabilen Regierung und geißelt „Drohungen“ und „Endzeitstimmung“. Die Linke Sahra Wagenknecht fragt sich und die CSU: „Nehmen Sie überhaupt noch wahr, dass es eine Welt außerhalb von Bayern gibt?“ Die Grüne Katrin Göring-Eckardt geißelt „Politik der Angstmache“. Nur der AfD-Vormann Alexander Gauland findet Seehofer halbwegs gut – der denke wenigstens an „nationale Interessen“.
Für die CSU spricht Dobrindt. Er zitiert Franz Josef Strauß („Europa ist unsere Zukunft“) als Beleg, dass man kein Antieuropäer sei. Er begrüßt „Fortschritte“ beim Mini-EU-Gipfel am vorigen Sonntag. Er erfindet sich ein Prinzip: „Keine offenen Grenzen nach innen ohne sichere Grenzen nach außen.“ Er unterlässt jede Drohung mit einem Alleingang. Er verteidigt den Zurückweiseplan: Das sei „nichts anderes als die nationale Anwendung europäischer Lösungen“.
Auch ein interessanter Satz. Der Entwurf der EU-Gipfelerklärung enthält eine Passage, in der nationale Maßnahmen gebilligt werden, um das Weiterziehen bereits registrierter Asylbewerber zu verhindern, sofern der Eingriff in „enger Abstimmung“ mit anderen geschieht. Der erste Teil würde Seehofers Plänen den Segen erteilen, der zweite ihn an Merkels Absprachen mit Partnern binden.
Hohngelächter von der AfD
Ob sie die hinbekommt, wird die erste entscheidende Frage. Merkel steckt die Erwartungen niedrig. Es werde in Brüssel sicherlich keine perfekten Lösungen geben, aber zumindest einen Anfang, um von da aus weiter zu arbeiten. „So haben wir doch immer gearbeitet“, sagt die Kanzlerin fast bittend. Von der AfD schallt Hohngelächter.
Die zweite entscheidende Frage muss Seehofer beantworten, nachdem ihn Merkel am Freitagabend angerufen und am Samstag getroffen hat: Reicht das im Sinne von „wirkungsgleich“, wie es der CSU-Vorstand gefordert hat?
Kann überhaupt etwas reichen? „Warten wir doch ab“, sagt Seehofer. „Es kann auch Fortschritte geben, die uns zufrieden stellen.“ Maischberger drängt nach: Wenn die Regierung doch platzt? „Ach, des glaub’ i net!“ Die Journalistin schaut zweifelnd. „Ich bin dafür, dass wir in schwierigen Zeiten Schritt für Schritt machen“, sagt der CSU-Chef. Der Satz könnte von Merkel sein. Sind halt beide alte Schule, bei allen Gegensätzen. Vielleicht hilft ihm ja auf paradoxe Weise sogar ihre Richtlinien-Drohung, das „wirkungsgleich“ nicht zu eng auszulegen.
Albträume der Union
Denn ist nicht für beide ein Kompromiss alternativlos? Vor lauter Faszination für den Zweikampf ist ein dritter Mitspieler leicht aus dem Blick gerückt, obwohl er unter der Reichstagskuppel nicht zu übersehen ist. Die Unionsfraktion klatscht häufiger bei Merkel und etwas bei Dobrindt. Streitlustig wirkt sie nicht.
In den zwei Wochen seit dem dramatischen Donnerstag, als CDU- und CSU-Teil getrennt tagten und sich aufführten wie verfeindete Heere, war Zeit zum Weiterdenken. Der Anblick der leeren CSU-Bänke im gemeinsamen Fraktionssaal hat der CDU-Seite vor Augen geführt, was der Bruch bedeuten würde: Geschrumpft in Berlin, Spaltung in jedem Wahlkreis, kaum noch Direktmandate ...
Bei der CSU der gleiche Albtraum: Ein Christsozialer aus bisher doch sehr komfortablen oberbayerischen Verhältnissen sagt, er würde mit dem AfD-Bewerber um den Sieg im Wahlkreis ringen müssen. Beim Fraktionsfest im „Zollpackhof“ am Dienstag haben sich viele geschworen: So weit darf’s nicht kommen.
Merkel muss liefern. Söder, Dobrindt, Seehofer dürfen die Annahme nicht verweigern. So einfach ist das eigentlich. Am Montagnachmittag trifft sich die Fraktion zur Sondersitzung. Wenn dann immer noch keine Lösung da ist, werden die Abgeordneten sie erzwingen müssen. Und notfalls setzen sie dafür zwei Leuten den Stuhl vor die Tür.