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Überall in Europa stehen jetzt wieder Zäune und Grenzen. Gesellschaftlich und politisch waren sie wohl nie ganz verschwunden.
© Karl-Josef Hildenbrand /dpa

Europa in der Krise: Europas Zukunft ist nicht am Ende

War das vereinte und einige Europa nur ein Missverständnis, ein Hirngespinst? Vielleicht ein deutsches. Aber die Fragestellung ist falsch. Europa steht erst am Anfang. Eine Analyse.

Vielleicht war es eben doch nur ein großes Missverständnis. Eine Illusion. Vielleicht hatte sich die Kraft des vereinten Europa bereits irgendwann in den achtziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts erschöpft, weil die Europäische Gemeinschaft nur noch aus Verwaltung zu bestehen schien. Wirklich regierbar war sie ja nie gewesen. Und dass unser deutscher Traum vom mit sich selbst im Einklang lebenden Europa als Insel der Seligen schon immer ein Hirngespinst war, geboren aus der Sehnsucht einer geteilten Nation nach Sinnstiftung, haben wir spätestens in den Jahren nach den Osterweiterung der Union begriffen.

Irgendwie hatten wir wohl gemeint, alle müssten ein bisschen deutsch werden, damit es klappt.

Aber außer uns dachten die Menschen in keinem anderen Land so. Jeder wollte eigentlich ganz bei sich selbst bleiben, vor allem aber endlich nach Jahrzehnten der Diktatur die Freiheit genießen. In den ersten Jahren durchaus von Erfolg begleitet. Die baltischen Staaten entfalteten eine unglaubliche wirtschaftliche Dynamik, Polen profitierte von den Brüsseler Milliarden, weniger stark galt das ebenfalls für Tschechien und die Slowakei. Ordentlich Geld floss auch an Staaten wie Bulgarien und Rumänien. Das allerdings sind Länder, die bis heute durch Korruption und Unterdrückung von Minderheiten geprägt sind und damit essenzielle Beitrittskriterien immer noch nicht erfüllten.

Jetzt wird uns Osteuropa unheimlich

Seit wenigen Jahren sehen wir aber mit einer gewissen Ratlosigkeit, dass auch Ungarn, Tschechien, die Slowakei und jetzt vor allem der Nachbar Polen politische Wege einschlagen, die uns unheimlich sind und zu unseren Vorstellungen von einem freien Europa nicht passen. In Warschau erleben wir die Wiederauferstehung der nationalkonservativ-klerikalen Kaczynski-Ära. Gerade gewählte Verfassungsrichter werden entpflichtet, in der Nacht nach dem Regierungswechsel Geheimdienstchefs gefeuert und neue installiert, solche, die der Verschwörungstheorie vom russischen Bombenanschlag auf die polnische Präsidentenmaschine 2010 bei Smolensk anhängen.

In Tschechien sind ein Staatsoberhaupt und ein Regierungschef im Amt, die eine andere EU wollen. Unverhüllt macht sich wieder Antisemitismus breit. Ungarns Präsident Victor Orbán verkündet, es sei ein alter linker Trick, Flüchtlinge in Massen ins Land zu lassen, um neue Wählerschichten heranzuziehen. Ungarns Lieblingsfeind ist der Finanzinvestor George Soros, an dem sich gleich drei Hassbilder festmachen lassen: Er ist Amerikaner, Jude und reich.

Auch rechte Regierungen werden demokratisch gewählt - nicht unbedingt aus rechten Gründen

Ist das unser Europa? Ob es uns passt oder nicht, die Fragestellung ist falsch. Alle diese Regierungen sind durch demokratische Wahlen an die Macht gekommen. In Polen übrigens aus rein wirtschaftlichen Gründen. Die Menschen hatten das Gefühl, die vorige Regierung habe sich um die Schwachen im Land nicht gekümmert. Das Wirtschaftsprogramm der Wahlgewinner ist eher sozialdemokratisch. Wegen ihrer klerikal-konservativen Denkstrukturen wurden die Marionetten Jaroslaw Kaczynskis jedenfalls nicht gewählt.

Und Ungarn, Tschechien, die Slowakei? Diese in den heutigen Grenzen sehr jungen Staaten hatten nie eine Chance, demokratische Strukturen und die Fähigkeit zum Kompromiss zu entwickeln, sie brauchen Zeit und Geduld. Ja, und klare Worte: dass mit der europäischen Wertegemeinschaft mehr als das Portemonnaie gemeint ist.

Krass unterschiedliche Prägungen lösen sich nicht von alleine auf.

Dennoch: Es war nicht alles ein Missverständnis. Es war der Unwille, zu begreifen, dass krass unterschiedliche gesellschaftliche Prägungen wie durch freiheitlich-demokratische Staaten auf der einen Seite und kommunistische Diktaturen auf der anderen nicht in wenigen Jahren verschwinden. Europas Zukunft ist nicht am Ende, wir müssen sie nur ehrlich definieren.

Zu dieser Ehrlichkeit gehört neben der Einsicht in den Reiz der Vielfalt auch die Erkenntnis, dass wir alle in Europas Staaten, jeder für sich, in der globalisierten Welt ein Nichts sind. Gerade jetzt, in der Flüchtlingskrise, spüren wir die Attraktivität Europas genauso wie die Folgen der fehlenden Einigkeit.

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