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Hoffen, warten, bangen - die Hände eines Flüchtlings auf Lampedusa.
© dpa

Flüchtlingstragödie auf dem Mittelmeer: Europa kann - und muss mehr tun

Die Flüchtlingstragödie im Mittelmeer zeigt: Europa gibt es zweimal. Das erste Europa will alle Flüchtlinge zu sich holen, sie ausbilden, integrieren. Das zweite Europa fühlt sich überfordert. Beide Ansichten sind berechtigt. Ein Kommentar.

Ein Kommentar von Malte Lehming

Europa ist groß, gut und reich. Der Lebensstandard ist hoch, das soziale Netz dicht, die Bildung fundiert. Bezogen auf die Wirtschaftsleistung von rund zwölf Billionen Euro ist der europäische Binnenmarkt der größte einheitliche Markt der Welt. Bei Wettbewerbsrecht, Umwelt- und Verbraucherschutz werden Maßstäbe gesetzt. Die Umgangsformen sind zivil, Rechtsstaat und Völkerrecht werden geachtet, unterschiedliche Lebensformen toleriert. Außerdem sind Europäer stolz auf ihre Moral. Dazu gehört der hohe Rang der Menschenrechte, der ausgeprägte Wille, Konflikte durch Verhandlungen zu lösen, sowie die Bereitschaft, Menschen zu helfen, die in Not geraten sind.

Europa ist klein, böse und arm. Der Anteil am global zu verteilenden Kuchen schrumpft. Die Bevölkerung altert, die Kosten für Gesundheits- und Rentensysteme steigen. Die digitale Revolution wurde verschlafen, das Wachstum ist zwar stabil, doch dessen Niveau niedrig. Allerorten sprießen xenophobe, rassistische und/oder antieuropäische Bewegungen aus dem Boden. Russland nagt an der Ukraine, Griechenland droht akut die Staatspleite, viele andere EU-Staaten sind heillos verschuldet, und Amerika scheint sich vom Weltgeschehen abgewandt zu haben. In Syrien und dem Irak wüten die IS-Milizen, der Iran exportiert ungehindert die schiitische Form des Fundamentalismus, Afrika zerfällt.

Die Schleuser und Schlepper sollen entschädigt werden

Das erste Europa will alle Flüchtlinge, die in Libyen sitzen, zu sich holen, sie die Landessprache lehren, ausbilden, integrieren. Die Schleuser und Schlepper sollen entschädigt werden. Anschließend müssen mit sehr großen Summen afrikanische Staaten stabilisiert und die Lebensbedingungen dort verbessert werden. Das zweite Europa fühlt sich überfordert. Millionen Flüchtlinge aufnehmen: Wird das nicht erst weitere Millionen animieren, es ebenfalls bei uns zu versuchen? Schon bei der letzten Europawahl haben knapp zwanzig Prozent der Bürger auf dem Kontinent für extreme, zum Teil ausländerfeindliche Parteien votiert. Und lassen sich Länder durch viele Milliarden Euro wirklich befrieden? Afghanistan, Griechenland und die Ukraine wirken in dieser Beziehung nicht eben ermutigend.

Europa eins wirft Europa zwei Zynismus und Herzlosigkeit vor. Europa zwei wirft Europa eins Naivität und Größenwahn vor. Eine Verständigung fällt auch deshalb schwer, weil beide Selbstwahrnehmungen faktenbasiert sind. Zu welcher Seite der Einzelne tendiert, hat eher mit Charakter und Haltung als mit Wissen und Information zu tun. Allerdings würde es die Debatte bereichern, wenn die Lager sich nicht allein wechselseitig verdammen, sondern sich auch der Kernaussage ihres Gegenpols stellen. Das setzt den Verzicht auf Unterstellungen über angeblich unlautere Motive voraus.

Ja, Europas Macht ist begrenzt. In der Sicherheitspolitik bleibt Amerika ein unverzichtbarer Faktor. Die finanziellen Ressourcen sind beschränkt. In der Flüchtlingspolitik muss der soziale Frieden mitbedacht werden. Es gilt aber auch: Ja, Europa kann und muss mehr tun, um das nackte Leben rettungsbedürftiger Menschen zu schützen, die vor seiner Haustür zu ertrinken drohen. Es kann und muss mehr Flüchtlinge aufnehmen. Es kann und muss der Ideologie von Rassisten widerstehen. Allein auf einem solchen Konsens kann eine Politik gedeihen, bei der sich Augenmaß mit Weitblick verbindet. Sie ist dringlicher denn je.

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