EU-Kommissar Oettinger zum Brexit: "Europa ist in Lebensgefahr"
Der deutsche EU-Kommissar Günther Oettinger über die Konsequenzen aus der Entscheidung in Großbritannien und die Gefahr eines Dominoeffekts.
Herr Kommissar, der EU-Partner Großbritannien wird das europäische Haus verlassen, muss es nun harte Scheidungsverhandlungen geben?
Wir müssen nicht hart verhandeln, sondern konsequent, unverzüglich und gründlich. Wir respektieren, dass die Briten in einem demokratischen Verfahren den Austritt beschlossen haben. Ich bedauere es zugleich sehr. Jetzt gilt es, in einem geordneten Verfahren mit der Abwicklung zu beginnen. Investoren sind an einem Binnenmarkt mit klaren Rechtsgrundlagen interessiert. Großbritannien hat all die Jahre vom Binnenmarkt massiv profitiert. Gerade England. Nehmen Sie die Automobilindustrie. Früher gab es britische Hersteller, inzwischen haben andere Marken übernommen, zum Beispiel BMW und Zulieferer wie Bosch. Sie haben weiter auf der Insel produziert, weil das Land im europäischen Markt war. BMW und andere konnten die Autos einfach vom Werk bei London nach Amsterdam zum Verkauf transportieren. Wohl gemerkt, nicht exportieren, denn es gibt ja den Binnenmarkt. Das wird aber bald vorbei sein. Je schneller alle Rechtsfragen geklärt sind, desto eher werden Investoren ihre Zurückhaltung nach einem Austritt wieder aufgeben.
Hat die EU ein Demokratiedefizit?
Nein. Das EU-Parlament ist genauso demokratisch gewählt wie der Landtag von Baden-Württemberg oder der Gemeinderat von Biberach. Der Europäische Rat entspricht unserem Bundesrat, der Länderkammer, ist also ebenfalls über jeden Vorwurf erhaben. Und ein EU-Kommissar ist demokratischer legitimiert als jeder Minister im Kabinett von Angela Merkel. Über die Zusammensetzung des Bundeskabinetts entscheiden nämlich drei Politiker, die Chefs von CDU, CSU und SPD. Das ist in Europa anders. Wer aber Kommissar werden möchte, muss sich in den Ausschüssen des Parlaments vorstellen und muss das Votum des Parlamentes bekommen. Ich halte fest: Alle drei zentralen europäischen Institutionen – Parlament, Rat und Kommission – müssen sich nicht verstecken, sie haben gegenüber Parlamenten auf nationaler Ebene überhaupt keinen Nachholbedarf an demokratischer Legitimation.
Sollte die EU auf so umstrittene Abkommen wie TTIP verzichten als Zeichen an die Bürger, dass sie verstanden hat?
Damit würden wir uns vollends auf Abwege begeben. Die Welt wundert sich schon sehr über die Entscheidung im Vereinigten Königreich. Sie hat Europa bislang als zentralen Ansprechpartner gesehen, um Herausforderungen von großer Bedeutung anzugehen. Siehe jüngst bei der Weltklimakonferenz in Paris, als die Europäer unter Einschluss der Briten eine gemeinsame Position hatten. Wenn wir jetzt aber noch den Welthandel infrage stellen, indem wir Ceta und TTIP nicht mehr abschließend beraten und demokratisch beschließen, dann wären wir schlecht beraten. Dann geben wir uns auf.
Welches Signal sollte der EU-Gipfel in der nächsten Woche senden?
Wir brauchen ein Zeichen der Geschlossenheit aller 27. Daran hapert es in letzter Zeit gewaltig. Die Geschlossenheit innerhalb der EU-Kommission ist deutlich höher als unter den Mitgliedsländern. Auch das Parlament macht hier eine bessere Figur. Das Erscheinungsbild Europas wäre besser, wenn die Mitgliedsländer mehr an einem Strang zögen. Meine dringende Aufforderung ist, dass die nationalen Regierungen ihre Fehlerquote bei europäischen Themen drastisch reduzieren. Der britische Premier David Cameron hat unverantwortlich gehandelt, als er das Referendum angezettelt hat. Sein Jugendfreund Boris Johnson hat nicht weniger unverantwortlich gehandelt, indem er das Referendum für seine eigene Profilierung gekapert hat. Es ist mehr als überfällig, dass die nationalen Regierungschefs nun ihre nationalen Egoismen zurückstellen. Das müssen sie am Dienstag beweisen und eine Zukunftsperspektive für die EU ohne Briten aufzeigen.
Brauchen wir jetzt eine große Reform der EU, womöglich einen Verfassungskonvent, wie die SPD fordert?
Ein Verfassungskonvent würde dem Projekt Europa derzeit mehr schaden als nutzen. Ich sehe für die nächsten vier Jahre nicht, dass eine Reform unseres europäischen Primärrechts in den Parlamenten der 27 Mitgliedsstaaten auch nur den Hauch einer Chance hätte. Nun eine europäische Verfassungsreform starten zu wollen, das wäre eine Einladung an alle Populisten, die europäische Idee mit Vollgas an die Wand zu fahren.
Ist die Zeit für eine weitere Vertiefung der EU abgefahren?
Es wäre falsch, jetzt eine wie auch immer geartete verfassungsrechtliche Vertiefung der EU anzugehen. Wir können aber sehr wohl auf der Grundlage des bestehenden Rechtes die Zusammenarbeit vertiefen. Das ist sogar sehr sinnvoll. Ich nenne einige Bereiche: Sicherheits-, Außen-, Asyl- und Nachbarschaftspolitik. Es ist etwa mehr Europa nötig, damit die Zahl der Flüchtlinge im Jahr 2025 im Rahmen bleibt. Wir brauchen auch eine Harmonisierung des Asylrechts. Und im digitalen Bereich sind gemeinsame europäische Strategien erforderlich, weil die Digitalisierung nicht an den Grenzen der Nationalstaaten haltmacht.
Ein gemeinsamer Finanzminister der Europäischen Union?
Damit er Kompetenzen hat, müsste man die Verträge ändern, was ich für chancenlos halte. In dem Bereich gibt es aber dennoch Handlungsbedarf: Bestehende Abmachungen, da nenne ich an erster Stelle den Stabilitäts- und Wachstumspakt, müssen wieder konsequenter angewendet werden. Da sind die Euro-Zone und die Kommission gefragt. Da hat die EU an Glaubwürdigkeit eingebüßt, weil die Union die selbst aufgestellten Regeln nicht diszipliniert genug eingehalten hat. Auch die Kommission muss sich hier Defizite bei der Haushaltskontrolle vorwerfen lassen.
Wird es in der EU ohne England nicht noch schwieriger, marktwirtschaftliche Prinzipien durchzusetzen?
Ja. Ein Eckpfeiler der Marktwirtschaft bricht gerade weg. Dabei werden aber die Argumente für Ordnungspolitik in nächster Zeit zwingender. Alle Europäer müssen erkennen, dass sie die Wettbewerbsfähigkeit stärken, dass sie die Neuverschuldung gegen Null bringen und mehr in Forschung und Infrastruktur investieren müssen. Europa wird im internationalen Wettbewerb nicht bestehen, wenn weiter immer nur nach höheren Sozialleistungen möglichst auch noch aus dem EU-Haushalt gerufen wird.
In Großbritannien hat die Zuwanderung eine große Rolle gespielt. Auch in Deutschland gibt es Vorbehalte. Nehmen die Politiker bei uns die Sorgen der Bürger nicht ernst genug?
Die britische Regierung hat unmittelbar nach der EU-Mitgliedschaft Rumäniens für Arbeitnehmerfreizügigkeit gesorgt. Deutschland und andere haben eine längere Übergangszeit beschlossen. Heute sehen wir, dass sich der deutsche Weg ausgezahlt hat, die nun gewährte Freizügigkeit stellt kein Problem dar. Mehr noch: Bei unserer demografischen Entwicklung können wir froh sein, dass Rumänen und Bulgaren kommen, die in der Mehrzahl qualifiziert sind. Davon zu trennen ist die hohe Zahl von Flüchtlingen. Für diese Herausforderungen ist nicht die EU verantwortlich zu machen. Die Menschen kommen, weil in ihren Ländern Religionskriege, ethnische Konflikte, Hungersnöte und Diktaturen herrschen. Hier ist aber die EU Teil der Lösung und nicht Teil des Problems.
Schon kündigt der Front National ein Referendum in Frankreich an. Machen Sie sich Sorgen, dass der befürchtete Dominoeffekt eintritt?
Wir müssen damit rechnen, dass Marine Le Pen vom Front National jetzt ihren Wahlkampf um die französische Präsidentschaft auf die Aussage zuspitzt: Wählt mich, dann bekommt ihr ein Referendum und könnt entscheiden, ob ihr in der EU bleiben wollt. Der Rechtspopulist Geert Wilders in den Niederlanden wird es ganz genauso machen. Wir müssen uns der Gefahren bewusst sein: Das sind zwei Gründungsstaaten der EU. Europa ist damit in existenzieller Gefahr. In Lebensgefahr.