Syriens Flüchtlinge: „Europa ist in der Pflicht“
Ein Gespräch mit UN-Flüchtlingskommissar Antonio Guterres über die Aufnahme syrischer Flüchtlinge, den Umgang mit Asylsuchenden und Chancen auf Frieden.
Herr Guterres, die UN wollen bei der Geberkonferenz für Syrien 6,5 Milliarden Dollar (4,8 Milliarden Euro) einwerben, um den Menschen im Bürgerkriegsland zu helfen. Worauf gründet sich Ihre Zuversicht, dass so viel Geld zusammenkommt?
Zunächst hoffe ich sehr, dass die kommenden Friedensgespräche in Genf dazu beitragen werden, die Lage in Syrien zu verbessern. Aber klar ist: Die Menschen im Bürgerkriegsland sind auch in Zukunft auf humanitäre Hilfe dringend angewiesen. Der Bedarf wird 2014 sogar noch größer sein als 2013. Im vergangenen Jahr hat die Staatengemeinschaft fast zwei Milliarden Dollar bereitgestellt. Jetzt benötigen wir dreimal mehr Geld, weil unserer Prognose nach die Flüchtlingszahl noch einmal drastisch ansteigen wird.
Bislang aber scheint sich die Spendenbereitschaft in Grenzen zu halten, oder?
Ich glaube, dass es im ureigenen Interesse der Geber ist, die Opfer dieses brutalen Kriegs finanziell zu unterstützen. Je mehr Hilfe die Flüchtlinge und ihre Aufnahmeländer erhalten, desto wahrscheinlicher wird es, dass alle davon profitieren. Denn sollte es irgendwann Frieden geben, braucht es eine starke Bevölkerung für den Wiederaufbau.
Sie sehen die UN-Mitglieder in der Pflicht?
Auf jeden Fall, und zwar nicht nur finanziell. Wir sind überzeugt davon, dass den Syrern, die ihr Land verlassen müssen, im Rahmen der UN-Flüchtlingskonvention uneingeschränkt Schutz gewährt werden muss. Leider ist das aber nicht überall der Fall. Innerhalb der Europäischen Union etwa sind die Aufnahmekriterien uneinheitlich. Auch die gewährten Rechte unterscheiden sich von Land zu Land. Ein Unding.
Was erwarten Sie?
Die Behandlung von Asylsuchenden muss in einigen Staaten unbedingt verbessert werden. Zum Beispiel liegen uns Berichte darüber vor, dass Behörden die Menschen einfach inhaftieren und unverhältnismäßig lange festhalten. Dabei fliehen die Syrer vor einem der schlimmsten Konflikte seit Jahrzehnten. Viele von ihnen haben unter unfassbaren Menschenrechtsverletzungen gelitten und sind brutal verfolgt worden. Nun suchen sie Schutz in Europa. Und dafür gibt es Standards, die eingehalten werden müssen.
Sollte Europa mehr Flüchtlinge als bisher aufnehmen?
Zur internationalen Solidarität gehört es nun einmal, dass Lasten geteilt werden. Auch und gerade, wenn es um das Flüchtlingsproblem geht. Es ist schon sehr befremdlich: Von der Türkei und anderen Anrainerstaaten wird erwartet, dass sie ihre Grenzen offen halten. Gleichzeitig macht Europa seine Grenzen dicht. Die Syrer müssen geradezu darum kämpfen, dort Schutz zu finden. Dabei hat allein die Türkei bislang zehnmal mehr Menschen bei sich aufgenommen als alle EU-Mitglieder zusammen.
Was muss sich ändern?
Ich habe schon mehrfach gefordert, dass alle Staaten syrischen Flüchtlingen uneingeschränkten Zugang zu Asylverfahren gewähren müssen. Dazu gehört auch, sie ausreichend zu schützen oder Familienzusammenführung zu ermöglichen. Es gibt durchaus positive Beispiele. In Schweden erhalten Syrer ein permanentes Aufenthaltsrecht. Deutschland hat sich bereit erklärt, aus humanitären Gründen 10 000 Flüchtlinge aufzunehmen.
Reicht die bisherige Hilfe aus Staaten der EU?
Nein, sicherlich nicht. Sollte sich die Situation im Bürgerkriegsland nochmals verschärfen, wird die internationale Staatengemeinschaft womöglich dabei helfen müssen, die Menschen außerhalb der Region in Sicherheit zu bringen. Nur so kann der Druck, unter dem Aufnahmeländer wie der Libanon oder Jordanien leiden, verringert werden.
Was kann man schon heute tun, um Syriens Anrainerstaaten zu entlasten?
Diese Gastländer kämpfen seit langem mit einem Flüchtlingsstrom, der sie – trotz aller bewundernswerten Hilfsbereitschaft – völlig überfordert. Inzwischen sind die wirtschaftlichen, sozialen, demografischen und politischen Probleme enorm. Und eine Beruhigung der Lage ist nicht in Sicht. Im Gegenteil. Die UN rechnen bis Ende 2014 mit mehr als vier Millionen Flüchtlingen in der Region. Die Aufnahmeländer stehen also vor einer riesigen Herausforderung. Deshalb appelliere ich an die Geberstaaten, Projekte und Programme zur Verbesserung der dortigen Infrastruktur langfristig zu unterstützen. Wir haben es nicht mehr nur mit einer humanitären Krise zu tun, sondern wir brauchen eine umfassende Strategie, um die immensen Auswirkungen des Konflikts in Syrien zu meistern.
Besonders dramatisch ist die Lage der Kinder. Es droht eine "verlorene Generation". Wie kann das verhindert werden?
In der Tat sind die Folgen des Krieges für Syriens Kinder besonders dramatisch. Millionen gehen nicht mehr zur Schule, Tausende wurden von ihren Familien getrennt. Viele sind verletzt, körperlich wie seelisch. Eine ganze Generation erlebt eine Kindheit, die von Gewalt, Vertreibung und Verlust geprägt ist.
Was muss geschehen?
Wir müssen dafür sorgen, dass diese Kinder nicht für alle Zeit unter den Auswirkungen des Krieges leiden müssen. Wir dürfen diese Generation nicht verlieren. Denn davon wäre nicht nur Syrien selbst betroffen, sondern die ganze Region. Deshalb haben UNHCR, Unicef, Save the Children, Word Vision und andere Hilfsorganisationen eine “No-Lost-Generation-Strategie” entwickelt. Diese sieht unter anderem vor, sich um die Bildung der Kinder intensiv zu kümmern, sie vor Gewalt und Missbrauch zu schützen und sie psychologisch zu betreuen.
Am 22. Januar beginnt nach langem Hin und Her die Friedenskonferenz für Syrien. Welche Ergebnisse sind bestenfalls zu erwarten?
Es ist unwahrscheinlich, dass man sich auf ein vollständiges Friedensabkommen verständigt. Daher hoffe ich, dass dort zumindest der Weg für einen ernsthaften Dialog der Konfliktparteien bereitet wird.
Und im schlechtesten Fall?
Das Schlimmste wäre, die Friedenskonferenz würde gar nicht zustande kommen. Denn die Kämpfe dauern schon viel zu lange an. Wir müssen alles daran setzen, sie zu stoppen.
Antonio Guterres (64) ist seit 2005 Flüchtlingskommissar der UN.Von 1995 bis 2002 war er Portugals Regierungschef, für einige Zeit zudem Präsident der Sozialistischen Internationalen