Die Folgen der Europawahl: Europa auf dem Weg zu mehr Einheit
Nach der Abstimmung geht es um die Macht in Europas Institutionen, um Zusammenspiel und Wettstreit. Dabei sollten alle EU-Bürger mitfiebern. Ein Kommentar.
Am heutigen Sonntag wird gewählt. Von Montag an geht es in Europa um ganz andere Fragen: um Macht und Posten. Das ist nichts Schlechtes. Die Präsidenten der EU-Kommission und des Europäischen Parlaments (EP) sind in den nächsten fünf Jahren die Gesichter Europas. Um die Mehrheiten und die Koalitionen, die sie stützen, ging es bei der Europawahl, auch wenn die Wahlkämpfer den Bürgern oft anderes vorgespielt haben – dass es um Klimaschutz gehe, eine CO2-Steuer oder die Grundrente, obwohl das Europaparlament darüber gar nicht entscheidet.
Gewiss will man von Europapolitikern wissen, welche Ziele ihnen wichtig sind. Politische Macht ist ja kein Selbstzweck. Doch auf den abrupten Themenwechsel, der nun folgt, hat der Wahlkampf die Bürger nicht vorbereitet. Nach der Auszählung geht es um die Macht in den Institutionen, um ihr Zusammenspiel und ihren Wettstreit. Dabei sollten alle EU-Bürger mitfiebern. Denn es spiegelt die widerstreitenden Gefühle in ihnen. Sie alle haben nationale Interessen; die vertritt der Rat der Regierungschefs. Sie wollen, dass die EU in den gemeinsamen Politikfeldern vorankommt; daran arbeitet die Kommission. Sie wollen mehr Demokratie; dafür muss ein starkes Parlament Macht und Gesetzgebung kontrollieren.
Wozu wird die neue Macht genutzt?
Wenn die Staats- und Regierungschefs am Dienstagabend das Wahlergebnis diskutieren, wird die plakatierte Harmonie – Kommt zusammen für Europa! – keine Rolle mehr spielen. Und auch nicht die Sorge, dass Nationalisten und Populisten das Parlament blockieren. Die Pro-Europäer werden eine breite Mehrheit haben. Die Frage ist, wofür sie sie nutzen, angefangen mit dem Kampf um nationalen Einfluss und europäische Ämter. Wer wird Kommissionspräsident, wer Parlamentspräsident? Wer wird mit dem Vorsitz der Europäischen Zentralbank besänftigt?
Frankreichs Präsident Emmanuel Macron hat einen Schlachtplan. Unverhohlen attackiert er das vor fünf Jahren eingeführte Spitzenkandidaten-System. Er will verhindern, dass der deutsche Christdemokrat Manfred Weber als Kandidat der vermutlich größten Fraktion im EP automatisch Kommissionspräsident wird. Oder der niederländische Sozialdemokrat Frans Timmermans als Chef der wohl zweitgrößten Fraktion. Am liebsten wäre Macron der Franzose Michel Barnier. Und die Kanzlerin? Wird sie Weber unterstützen oder abwägen, ob der EZB- Vorsitz wichtiger für Deutschland ist?
Parteipolitik ist nachrangig
Die Regierungschefs haben ihre jeweiligen nationalen Interessen. Sie haben aber auch ein gemeinsames institutionelles Interesse: möglichst viel Macht in Europa in ihrem Gremium, dem Rat, zu halten.
Im Parlament gilt das ebenso. Auch die Europaabgeordneten haben neben nationalen und parteipolitischen Interessen ein institutionelles Interesse: den Ausbau der Macht des Parlaments. Nie wieder soll der Rat der Regierungschefs dem Parlament einen Kommissionspräsidenten aufdrücken. Der Rat hat das Vorschlagsrecht. Aber er muss eine Person benennen, die das Parlament akzeptieren kann. Sonst wird sie abgelehnt. Es ist gut vorstellbar, dass die Grünen eher für Manfred Weber stimmen, als dem Rat zu erlauben, ihnen jemanden aufzuzwingen.
Da steht Europa auf dem langen Weg zu mehr Einheit im Jahr 2019. Das parteipolitische Interesse ist nachrangig gegenüber dem gemeinsamen Interesse der Abgeordneten, die Macht des Parlaments zu verteidigen. Und zu vergrößern.