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"US-Besitz. Betreten verboten" ist am 27.04.2013 in Naco, Arizona (USA) an der Grenze zu Mexiko, aufgestellt. Wir Amerikas Politik unter Präsident Trump Lateinamerika und die Europäische Union einander näher bringen?
© Will Seberger/Will Seberger/dpa

EU und Lateinamerika: Europa als Alternative?

Immer wieder hat Lateinamerik an der Diversifizierung ihrer Beziehungen und Kontakte jenseits der USA gearbeitet. Heute stehen die Chancen besser als je zuvor.

Kaum ein politisches Ereignis in den USA hat in Lateinamerika zu solchen Erschütterungen geführt wie der Wahlsieg von Donald Trump. Insbesondere die Länder im unmittelbaren „Hinterhof“ sehen ihre wirtschaftlichen Chancen bedroht, wenn das protektionistische Credo des neuen Präsidenten Realität werden sollte. Jahrzehntelang haben Mexiko, die zentralamerikanischen Staaten und die Karibikanrainer auf offene Märkte gesetzt, nun scheint ihr auf den US-Markt ausgerichtetes Entwicklungsmodell infrage zu stehen. Auch die Zukunft vieler Familien, die Verwandte in den USA haben, von diesen über Rücküberweisungen finanziell unterstützt werden oder ihre Kinder an US-Universitäten studieren lassen, sehen sich durch die migrationspolitischen Initiativen der neuen Regierung bedroht.

Massive Ausweisungen von Bürgern, die sich „ohne Papiere“ in den USA aufhalten, könnten zu erheblichen Verwerfungen in den Herkunftsländern führen. Europa erscheint angesichts dieses Erwartungshorizonts als die traditionelle Alternative angesichts langjähriger Zusammenarbeit und historischer Beziehungen, aber auch andere Optionen wie Kanada und die Chancen im pazifischen Raum haben an Bedeutung gewonnen.

Immer wieder haben die Regierungen, aber auch die Bürger Lateinamerikas an der Diversifizierung ihrer Beziehungen und Kontakte jenseits der USA gearbeitet – mit mäßigem Erfolg. Europa war dabei oft die bevorzugte Option, aber substanziell hat sich nicht viel entwickelt – Lateinamerikas Anteil am europäischen Außenhandel beläuft sich seit Jahren gerade auf etwa sechs Prozent. Indes sind die euro-lateinamerikanischen Beziehungen immer von großen Erwartungen und gegenseitiger Offenheit getragen worden, die Annahme einer quasi „selbstverständlichen Partnerschaft“ motivierte das Verhältnis.

Argentinien und Brasilien wenden sich gegen Protektionismus

Doch manche Enttäuschung war zu verkraften: Bis heute wartet der Mercosur, bestehend aus Argentinien, Brasilien, Paraguay und Uruguay darauf, zu einem Abschluss der seit 1999 laufenden Verhandlungen für ein Freihandelsabkommen mit der EU zu gelangen. Heute stehen die Chancen dafür besser als je zuvor: Die neuen Regierungen in Buenos Aires und Brasilia wollen die protektionistische Politik der Vergangenheit überwinden und ihre Märkte öffnen. Sie sehen in der EU eine Möglichkeit des Marktzugangs, die sie nicht verpassen möchten; gleichzeitig wollen sie natürlich auch europäische Investoren anlocken, die über die traditionelle Präsenz der Automobil- und Chemieindustrie hinaus neue Technologien ins Land bringen sollen.

Ein Erfolg der anstehenden Verhandlungsrunden könnte ein klares Signal einer multilateralen Handels- und Finanzordnung sein, die seitens der US-Regierung mit Misstrauen betrachtet wird. Aber vor einem solchen Durchbruch gilt es noch schwierige Fragen zu lösen, insbesondere bezogen auf landwirtschaftliche Güter aus Südamerika, die erneut in starke Konkurrenz mit den europäischen Agrarmarktinteressen geraten und zu einer Blockade führen könnten.

Europa hat an Strahlkraft eingebüßt

Doch Europa, insbesondere die EU, hat auch an Strahlkraft eingebüßt, das Bild der „Festung Europa“ macht die Runde. Vielen gilt Europa als zu bürokratisch, schwierig im Umgang und manchmal politisch lästig – aufgrund der Neigung der EU, sich in innere Angelegenheiten einzumischen und auf Demokratie, Rechtsstaat und zivilgesellschaftlicher Beteiligung zu beharren. Dies wird oft als Verletzung der nationalen Souveränität betrachtet, ein Vorwurf, den sich neue Partner – etwa aus dem pazifischen Raum – nicht gefallen lassen müssen. China drängt auf die lateinamerikanischen Märkte und bietet sich als Investor an, hier muss die EU aktiver werden, wenn sie ihre Präsenz in der Region bewahren will.

In Fragen der regionalen Integration und der Attraktivität der gesellschaftlichen Debatten ist der „alte Kontinent“ nicht mehr das einzige Leitbild. Der traditionelle Kontrollblick lateinamerikanischer Eliten nach Europa, bevor sie gesellschaftliche Reformen anstoßen, ist nicht mehr selbstverständlich. Viele junge Leute setzen heute auf Kanada als Chance für Bildungsoptionen, wirtschaftlich erwartet man sich Fortschritte in der Zusammenarbeit mit dem pazifischen Raum. Europa muss seine Selbstbezogenheit überwinden und sich durch gezielte Initiativen stärker positionieren, wenn es verlorenes Terrain zurückgewinnen will. Viel wird davon abhängen, ob das „alte Europa“ die aktuellen inneren und äußeren Herausforderungen zu meistern weiß, damit das „junge Lateinamerika“ sich wieder stärker für europäische Lösungen interessiert und dort seine Zukunft sucht. Günther Maihold

Der Autor ist Stellvertretender Direktor der Stiftung Wissenschaft und Politik.

Günther Maihold

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