Vereinbarung von 2016 läuft aus: EU und Türkei verhandeln über neues Flüchtlingsabkommen
Die EU und die Türkei wollen einen neuen Flüchtlingspakt schließen. Die Erwartungen der Führung in Ankara sind groß. Präsident Erdogan stellt Bedingungen.
Ein unauffälliges Bürohaus im Großstadtdschungel von Istanbul ist das Begegnungszentrum des Roten Halbmonds. Drinnen geht es zu wie in einem Bienenschlag. Nähmaschinen rattern in einer Werkstatt unter dem Dach, im zweiten Stock werden türkische Verben konjugiert, hinter anderen Türen finden vertrauliche Beratungsgespräche statt, und im Treppenhaus laufen junge Helfer auf und ab, um Neuankömmlinge einzuführen.
Für Zehntausende Menschen aus Syrien ist das Zentrum zur rettenden Anlaufstelle geworden, nachdem sie auf der Flucht vor dem Bürgerkrieg hier ankamen – so wie der 25-jährige Halit Temmo aus Aleppo.
Anfangs habe er sich mit Gelegenheitsjobs durchzuschlagen versucht, erzählt der 25-Jährige, aber ohne Sprachkenntnisse und Arbeitserlaubnis sei es aussichtlos. Am Gemeindezentrum lernte er Türkisch, dann vermittelte der Rote Halbmond ihm eine Stelle und besorgte ihm die Arbeitserlaubnis.
Heute ist er türkischer Steuerzahler, hat eine eigene Wohnung und einen Freundeskreis. „Mir geht es gut hier“, sagt Halit heute. „Ich habe vor, in der Türkei zu bleiben.“
Anlaufstelle für Flüchtlinge
Der Rote Halbmond ist Betreiber des Gemeindezentrums, landesweit gibt es in der Türkei 15 weitere solche Einrichtungen. Sie dienen als Anlaufstellen für die fast vier Millionen syrischen Flüchtlinge im Land.
Finanziert werden diese Stätten aus den Hilfsgeldern der Europäischen Union, die im Flüchtlingsabkommen von 2016 zugesagt wurden. Sechs Milliarden Euro versprach die EU der Türkei damals, doch das Geld ist inzwischen aufgebraucht.
Um ihre Forderung nach weiterer Unterstützung aus Europa zu unterstreichen, öffnete die Türkei im vergangenen Jahr vorübergehend die Landgrenze zu Griechenland für Flüchtlinge. Nun sind sich EU und die Türkei grundsätzlich darüber einig, dass das Abkommen erneuert werden soll. Die EU will bei ihrem Gipfel an diesem Donnerstag und Freitag darüber beraten.
Vor fünf Jahren stoppte der Flüchtlingspakt den Trek von Hunderttausenden Syrern über Anatolien nach Griechenland und weiter nach Westeuropa. Die Regierung in Ankara verpflichtete sich, die Flüchtlingsboote auf dem Weg von der türkischen Ägäisküste auf griechische Inseln zu stoppen und illegal nach Griechenland gelangte Syrer wieder zurückzunehmen.
Menschenrechtler kritisieren Flüchtlingspakt
Im Gegenzug sicherte die EU der Türkei, die rund vier Millionen Syrer und eine halbe Million Flüchtlinge aus anderen Ländern wie Afghanistan aufgenommen hat, die sechs Milliarden Euro zu und versprach, Syrer aus der Türkei legal aufzunehmen.
Menschenrechtler kritisierten den Flüchtlingspakt heftig, doch für die Politiker in der EU waren vor allem die Zahlen wichtig: Registrierte das UN-Flüchtlingshilfswerk UNHCR im Jahr 2015 noch 860.000 ankommende Flüchtlinge in Griechenland, waren es im vergangenen Jahr nur noch 16000. Schon jetzt steht fest, dass im Rahmen eines neuen Flüchtlingsvertrages wieder viel Geld in die Türkei fließen wird.
In Diplomatenkreisen ist von mehreren hundert Millionen Euro pro Jahr die Rede. „Die Türkei beherbergt sehr, sehr viele Flüchtlinge“, sagte Bundeskanzlerin Angela Merkel bei einem Treffen mit dem italienischen Ministerpräsidenten Mario Draghi in Berlin. „Sie hat alles Recht, dafür von uns weiter unterstützt zu werden.“
Besserer Zugang zum Arbeitsmarkt
Die EU will künftige Gelder für die Integration der Syrer in die türkische Gesellschaft ausgeben, wie es von europäischer Seite heißt. Dazu gehöre ein besserer Zugang der Syrer zu Schulen und zum türkischen Arbeitsmarkt: Bisher haben nur 70.000 Syrer in der Türkei eine Arbeitsgenehmigung, weil die Flüchtlinge von der Türkei offiziell als „Gäste“ gesehen werden, die irgendwann einmal wieder nach Hause gehen werden.
Unter dem jetzt auslaufenden Flüchtlingspakt konnte die EU durchsetzen, dass syrische Ärzte und Krankenschwestern in europäisch finanzierten Krankenstationen für Syrer arbeiten können. Doch solche Einzelprojekte reichen auf Dauer nicht, wenn die meisten Syrer in der Türkei nicht arbeiten dürfen, sagt ein Diplomat: „Die EU kann nicht auf ewig Sozialprogramme finanzieren.“
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Die Migration ist eines der Themen, bei denen die Europäer Möglichkeiten zur Kooperation mit der Türkei sehen, obwohl der Streit zwischen Ankara, Griechenland und Zypern um Gebietsansprüche in Ägäis und Mittelmeer weiter schwelt und die türkischen Beitrittsverhandlungen nur noch auf dem Papier existieren.
Erdogan forderte in einem Telefonat mit EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen konkrete Schritte der Europäer.
So dürfe es keine Vorbedingungen für eine Modernisierung der seit 1996 bestehenden Zollunion geben, sagte Erdogan laut dem türkischen Präsidialamt. In einer Beschlussvorlage für den Gipfel heißt es der Nachrichtenagentur Bloomberg zufolge, auf technischer Ebene hätten Gespräche über die Zollunion bereits begonnen.
Erdogan bekräftigte im Gespräch mit von der Leyen auch die türkische Forderung nach visafreiem Reisen in der EU, doch dies hat laut Diplomaten derzeit keine Chance auf Verwirklichung.