Flüchtlinge auf dem Mittelmeer: EU strebt europäische Küstenwache an
An den Seegrenzen sind die EU-Behörden komplett überfordert. Der EU-Gipfel wird sich am Donnerstag deshalb mit diesem Thema befassen. Es könnte schon bald eine europäische Küstenwache geben.
Es herrscht das blanke Chaos entlang der europäischen Seegrenzen, die Behörden sind überfordert. Das liegt aber nicht nur an der immensen Zahl von Flüchtlingen, die sich nach Europa aufmachen. Auch mangelnde Absprache trägt dazu bei. Sage und schreibe 316 Stellen sind in den 28 EU-Staaten für die Arbeit der Küstenwachen zuständig, wie eine Studie des Beratungsunternehmen ICF International im vergangenen Jahr für die Brüsseler Kommission festgestellt hat. Allein auf dem Mittelmeer, wo die mit Abstand größte Herausforderung wartet, existieren rund 50 unterschiedliche Zuständigkeiten. Zusammenarbeit gibt es dem Bericht zufolge wohl, aber in 70 verschiedenen Kooperationsstrukturen und über 41 zwischenstaatlichen Abkommen.
Die Erkenntnis, dass ein zersplitterter Grenzschutz nicht so recht zum einheitlichen Schengenraum passt, ist fast so alt wie die innereuropäische Reisefreiheit selbst. So wurde 2004 die EU-Grenzschutzagentur gegründet. Die in Warschau angesiedelte Behörde Frontex organisiert gemeinsame Abschiebeflüge, führt eigene Operationen mit Namen wie „Triton“ und „Poseidon“ im Mittelmeer durch oder schickt „schnelle Interventionsteams“ an europäische Grenzabschnitte, wo es brennt. All dies geschieht jedoch fast ohne eigenes Gerät und Personal.
Schon 2011 forderte deshalb Rainer Wendt, Chef der Deutschen Polizeigewerkschaft, Frontex zu einer echten EU-Küstenwache auszubauen und die Personalstärke auf mindestens 2500 zu verzehnfachen. EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker griff die Idee im Mai in einer neuen Migrationsstrategie auf und erneuerte die Forderung Anfang September. „Wir müssen Frontex erheblich stärken und zu einer voll funktionsfähigen europäischen Grenz- und Küstenschutzbehörde ausbauen“, sagte der Luxemburger in seiner Rede zur Lage der EU vor dem Europaparlament. In den Hauptstädten jedoch verhallte die Ansage.
Nun jedoch, keine sechs Wochen später, ist der Handlungsdruck in der Flüchtlingskrise noch einmal so gewachsen, dass beim EU-Gipfel am Donnerstag tatsächlich eine Art europäischer Küstenwache aus der Taufe gehoben werden könnte, vielleicht auch tatsächlich sogar ein übergreifender europäischer Grenzschutz. Von einer „schrittweisen Einrichtung eines integrierten Systems zum Management der Außengrenzen“ ist im Entwurf der Abschlusserklärung zu lesen. Geplant ist, der EU-Kommission, die noch bis Dezember einen konkreten Gesetzesvorschlag unterbreiten will, eine Richtschnur dafür vorzugeben.
„Das reicht von einer Art Frontex plus bis hin zum föderalistischen Traum eines weisungsbefugten EU-Beamten mit EU-Fahne am Oberarm“, wie es im Brüsseler Ratsgebäude heißt. Die Bundesregierung tendiert dabei offenbar zur großen Lösung: „Es geht um einen Grundsatzbeschluss für einen eigenen Küstenschutz zusätzlich zu Frontex“, sagt ein EU-Diplomat, „und ein paar eigene Schiffe wird man dafür schon brauchen, damit es etwas bringt.“ In eine ähnliche Richtung denkt offenbar Frankreich, das schon vorab ein Papier in die Diskussion gebracht hat.
Widerstände kommen aus jenen Ländern, wo ein solches EU-Grenzschutzkorps oder eine europäische Küstenwache derzeit vorrangig eingesetzt werden würde. „Griechenland und Italien betonen die nationale Hoheitsaufgabe des Grenzschutzes und wollen hier nicht mehr Europa haben“, berichtet ein EU-Diplomat. Er hat jedoch auch festgestellt, dass „die Mitgliedstaaten speziell mit Griechenland die Geduld verlieren“. Will heißen: Mehr und mehr Regierungen gelangen zu der Überzeugung, dass es nicht ausreicht, wenn die Gemeinschaft Athen beim Grenzschutz hilft – man müsse ihn Griechenland praktisch aus der Hand nehmen.
So wollen die Staats- und Regierungschefs Diplomaten zufolge dem Ersuchen von Frontex nachkommen, weitere 760 nationale Beamte vorrangig nach Griechenland zu entsenden – zusätzlich zu den 350, die dort bereits die Lage unter Kontrolle zu bringen versuchen. Außerdem sollen dafür mehr Schiffe, Helikopter oder Nachtsichtgeräte zur Verfügung gestellt werden als bisher.