"Ernsthafte Risiken": EU sträubt sich gegen Mays Bitte um Brexit-Aufschub
Die britische Regierungschefin Theresa May möchte eine Brexit-Verschiebung bis Ende Juni. Die EU hält den Termin aber für zu riskant.
Im Ringen um den Brexit sind Großbritannien und die EU selbst bei der nun anvisierten Verschiebung des Austrittstermins uneins. Die britische Premierministerin Theresa May bat Brüssel am Mittwoch um eine kurze Fristverlängerung bis Ende Juni, wie sie in London darlegte. Einem internen Dokument der EU-Kommission zufolge sieht diese aber wegen der anstehenden Europawahlen "ernsthafte rechtliche und politische Risiken" - und hält daher nur einen kürzeren oder einen deutlich längeren Aufschub für vertretbar.
May sagte dem britischen Parlament, sie habe EU-Ratspräsident Donald Tusk in einem Brief darüber informiert, dass Großbritannien eine Verlängerung der Frist nach Artikel 50 des EU-Vertrages bis zum 30. Juni anstrebe. Bisher ist der EU-Austritt der Briten für den 29. März vorgesehen. Von dem Brexit-Aufschub will die Premierministerin die anderen 27 EU-Mitgliedsländer beim EU-Gipfel ab Donnerstag in Brüssel überzeugen. Diese müssten diese Fristverlängerung einstimmig billigen.
Tusk macht eine Verschiebung des Brexit von der Annahme des Austrittsvertrags im britischen Unterhaus abhängig. Der Beschluss eines kurzen Aufschubs sei aus seiner Sicht möglich, wenn die britischen Abgeordneten sich davor für das Abkommen mit der EU aussprächen, sagte Tusk am Mittwoch in Brüssel. Offen sei noch die Frage, ob der von Premierministerin Theresa May vorgeschlagene Aufschub bis Ende Juni möglich sei.
Dies würden die EU-Staats- und Regierungschefs am Donnerstag diskutieren, sagte Tusk. Er verwies auf "Fragen rechtlicher und politischer Natur", nachdem die EU-Kommission am Mittwoch vor Risiken für die EU wegen der Europawahlen Ende Mai gewarnt hatte.
Tusk hält Sondergipfel für nicht notwendig
Die Notwendigkeit eines Sondergipfels zum Brexit in der kommenden Woche sieht Tusk derzeit nicht. Die EU könne ihren Teil beim Beschluss einer Verschiebung auch in einem schriftlichen Verfahren erledigen, sagte er. Falls nötig werde er aber auch einen Gipfel einberufen.
In einem internen Dokument, über das die EU-Kommission am Mittwoch bei ihrer wöchentlichen Sitzung beriet und das der Nachrichtenagentur AFP vorliegt, wird ein Aufschub bis Ende Juni als problematisch eingestuft. In dem Papier werden die Folgen mehrerer Verlängerungsvarianten erörtert.
Als Ergebnis wird festgehalten, dass die EU entweder eine sehr kurze Verschiebung bis kurz vor den Wahlen zum EU-Parlament Ende Mai gewähren könne oder eine "deutlich längere" Verschiebung "bis mindestens Ende 2019". Im letzteren Fall sei Großbritannien dann verpflichtet, Wahlen zum Europaparlament zwischen dem 23. und 26. Mai zu organisieren.
EU befürchtet Klagen von Bürgern wegen Europa-Wahl
"Jede andere Option (zum Beispiel bei einer Verlängerung bis zum 30. Juni)" wäre mit deutlichen Risiken für die EU behaftet, hieß es weiter. So bestehe bei einer Fristverlängerung bis Juni die Gefahr, dass Großbritannien anschließend um eine weitere Verlängerung bitte, ohne Wahlen abgehalten zu haben.
Dies könne "die formale Konstituierung des neuen Europäischen Parlaments illegal machen", hieß es. "Und diese Illegalität würde alle seine nachfolgenden Entscheidungen infizieren" wie etwa die Ernennung der neuen EU-Kommission oder die Verabschiedung des EU-Budgets. Auch britische Bürger oder EU-Bürger in Großbritannien könnten klagen, wenn ihnen das Recht auf Teilnahme an der EU-Wahl verwehrt werde, hieß es in dem Kommissionsdokument.
Überdies wird darin vor der Möglichkeit gewarnt, dass Großbritannien nach Mai Europawahlen abhält. Denn dann würden Sitze vergeben, die nach der Wahl im Mai bereits zwischen anderen EU-Ländern aufgeteilt worden wären. In dem Dokument hieß es überdies, es müsse ausgeschlossen werden, dass London eine Fristverlängerung für Nachverhandlungen am Austrittsvertrag nutzen wolle. Möglich seien lediglich ehrgeizigere Formulierungen für die begleitende politische Erklärung zu den künftigen Beziehungen.
Bundesregierung erwartet intensive Diskussion
Der Sprecher von EU-Kommissionschef Jean-Claude Juncker, Margaritis Schinas, sagte in Brüssel, der EU-Kommissionschef habe bei May auf einen Austrittstermin vor der EU-Wahl gedrungen. Anderenfalls bedeute dies für die EU "institutionelle Schwierigkeiten und rechtliche Unsicherheit". Zur Möglichkeit eines deutlich längeren Aufschubs äußerte sich der Kommissionssprecher nicht. Am Morgen hatte Juncker im Deutschlandfunk gesagt, er rechne nicht mit einem Beschluss der Gipfelteilnehmer am Donnerstag, vielmehr sei ein weiterer EU-Gipfel kommende Woche denkbar.
Der deutsche Regierungssprecher Steffen Seibert sagte in Berlin, die Bundesregierung begrüße es, dass es nun einen klaren Antrag Großbritanniens gebe. Dieser werde "sicher intensiv diskutiert werden". Bundesaußenminister Heiko Maas (SPD) kritisierte, Mays Schreiben enthalte nicht die notwendige Begründung für einen Brexit-Aufschub und habe daher "überhaupt kein Problem gelöst".
Das britische Unterhaus hatte den mit der EU ausgehandelten Austrittsvertrag vergangene Woche zum zweiten Mal abgelehnt. Die Dauer einer Fristverlängerung war im britischen Kabinett hoch umstritten. Brexit-Hardliner lehnten eine längere Verschiebung ab. Britischen Medienberichten zufolge drohten bei der Kabinettssitzung sogar mehrere Minister mit Rücktritt.
Angesichts der unsicheren Lage verlor das britische Pfund am Mittwoch fast ein Prozent an Wert. (AFP)