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Migranten in einem neuen Flüchtlingslager auf der griechischen Insel Lesbos.
© dpa/Panagiotis Balaskas

Vor dem Gipfel in Brüssel: EU muss und kann Zahl der Migranten reduzieren

Ob Grenzen, Zäune, freies Reisen oder bedrohter Warenverkehr: In Europa kursieren viele Behauptungen, die die Realität widerlegt. Ein Kommentar.

Deutsche Gründlichkeit sei gut, jetzt aber deutsche Flexibilität gefragt, sagte Angela Merkel im Sommer zum Verhältnis von Rechtsordnung und Flüchtlingskrise. Ähnliches gilt für die gedankliche Ordnung in den Köpfen: Feste Grundsätze sind gut, aber Flexibilität im Denken ist hilfreich. Woche für Woche werden Glaubenssätze im Ton unwiderlegbarer Wahrheiten in den öffentlichen Raum gestellt, die sich mit etwas Nachdenken durchaus anfechten lassen.

Ein paar Beispiele: Grenzen kann man nicht sichern. Der Bau von Zäunen hilft nicht, die Flüchtlinge werden sich nicht abhalten lassen. Wer sie an der Einreise hindern will, muss auf Menschen schießen. Wenn es wieder Personenkontrollen an den Binnengrenzen des Schengen-Raums gibt, bricht die Wirtschaft zusammen.

Die Kanzlerin hat ihre Haltung verändert, es aber nicht erklärt

Ist das alles so eindeutig? Die Massenmigration und die Suche nach internationalen Lösungen sind ein Wechselsystem mit vielen Variablen. Was letzte Woche noch als sicher galt, kann heute falsch sein. Die EU-Partner haben sich daran gewöhnt, die deutsche Politik als ein aus ihrer Sicht naives, aber unabänderliches Beharren auf offenen Grenzen zu beschreiben. Das stimmt schon lange nicht mehr. Die Kanzlerin hat ihre Position verändert, es wird nicht mehr jeder eingelassen. Sie hat freilich keine öffentliche Rede an die Nation und an die Flüchtlinge, die unterwegs sind, gehalten, um ihre Wende zu erklären. Weshalb viele Medien im Ausland suggerieren, die deutsche Politik sei heute dieselbe wie im September 2015.

Umgekehrt ist es kaum besser. Hierzulande tun viele so, als seien Polen, Ungarn und andere EU-Neumitglieder im Osten das große Hindernis für die Verteilung. Das war schon immer falsch. Frankreich und Großbritannien waren nie auf der deutschen Linie. Doch selbst nachdem Premier Manuel Valls Frankreichs kompromisslose Haltung Frankreichs ausgesprochen hatte, änderte sich die Tonlage kaum.

Personenkontrollen gefährden den Warenverkehr nicht

An der deutsch-dänischen Grenze gab es 2015 an mehr Tagen Personenkontrollen als Tage des unkontrollierten Reisens. Inzwischen wird auch an der schwedisch-dänischen Grenze kontrolliert. Das sind gewiss keine erstrebenswerten Zustände. Aber die dänische und schwedische Wirtschaft sind auch nicht zusammengebrochen, weil es wieder Grenzkontrollen gibt. Ein Nebeneinander von unbehindertem Warenaustausch – zum Beispiel Zulieferungen „just in time“ für arbeitsteilige Branchen mit Standorten in mehreren EU-Staaten – und Personenkontrollen ist kein Ding der Unmöglichkeit, sondern eine Frage intelligenter Organisation.

Professionelle Grenzschützer können überzeugend erklären, wie sich Grenzen sichern lassen, ohne auf Menschen zu schießen. Zäune, das sagen das Sprichwort, die historische und die Lebenserfahrung, sind keine Erfindungen des Teufels, sondern oft Friedensstifter gewesen: „Gute Zäune machen gute Nachbarn.“

Warum also das Beharren auf Glaubenssätzen, die bei näherer Prüfung offenkundig falsch sind? Steckt dahinter der Wunsch nach einer klaren gedanklichen Ordnung, die in Gut und Böse unterteilt? Und die, das ist das Bedrohliche an dieser Suggestion, jedem, der sich der Komplexität und Variabilität der Lage nicht stellen will, eine Absolution erteilt: Migration sei eine Naturgewalt, da könne man halt nichts machen.

Auch Flüchtlingsströme lassen sich beeinflussen

Kann man aber. Die politische wie moralische Herausforderung besteht darin, die geeigneten Mittel zu finden, die eine Gesellschaft anwenden möchte, um Migration zu beeinflussen. Es ist keineswegs zynisch, festzustellen, dass auch Flüchtlinge, die ihre Heimat verloren haben, sehr genau überlegen, wo sie anhalten und ob sie dort bleiben oder weiterziehen. Es ist eine Abwägung von Chancen und Kosten, Hoffnungen und Risiken. Syrer, die es in ein Flüchtlingslager in der Türkei geschafft haben, sind in der Regel ihres Lebens sicher. Sie haben eine andere Wahl, als sich auf den Weg nach Deutschland zu machen. Welche Wahl sie treffen, hängt davon ab, welche Signale die EU-Staaten aussenden. Wer wegen der Nato-Patrouillen in der Ägäis damit rechnen muss, in wenigen Tagen zurück in der Türkei zu sein, wird nicht mehr hohe Beträge an Schlepper zahlen.

Es geht nicht darum, Europa zur Festung zu machen und niemanden mehr einzulassen. Sondern darum, die Zahlen mit verantwortbaren Mitteln zu reduzieren. Europa muss das versuchen, um seinen inneren Frieden zurückzugewinnen. Eine EU, die sich über die Migration so zerstreitet, dass sie auch auf anderen Gebieten handlungsunfähig wird, hilft niemandem. Auch nicht den Verfolgten.

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