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Die Flaggen der Ukraine und der Europäischen Union hängen zusammen an der Außenseite des Gebäudes vor einer außerordentlichen Plenarsitzung zum Ukraine-Konflikt im Europäischen Parlament am 1. März 2022
© Virginia Mayo/AP/dpa

Beitrittsperspektive für die Ukraine: EU-Ehrenmitglieder gibt es nicht

Die Ukrainer verteidigen die Freiheit stellvertretend für Europa. Haben Sie sich deshalb den Platz in der EU verdient? So einfach ist es nicht. Ein Kommentar.

Der russische Präsident verspottete die Europäische Union gerne als eine Gemeinschaft egoistischer Feiglinge ohne Wertekompass. Doch der Kreml-Herrscher hat sich fundamental getäuscht. Die EU wirkt dieser Tage bisweilen erstaunt über sich selbst. Zu lange hatte es sich dieser wirtschaftliche Gigant in seinem politischen und militärischen Zwergen-Dasein bequem eingerichtet. Wachgerüttelt durch diesen unvorstellbaren Krieg in Europa hat sich die Union darauf besonnen, dass die Demokratie nicht nur mit Worten verteidigt werden kann. Denn Putin greift nicht nur die Ukraine an, sein Wüten zielt auf die Zerstörung der demokratischen Nachkriegsordnung, die den Menschen viele Jahrzehnte Frieden, Freiheit und Wohlstand gebracht hat.

Und diese verteidigen die Ukrainer derzeit auch stellvertretend für die anderen Europäer – woraus der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj seine Forderung nach unverzüglicher Aufnahme der Ukraine in die EU ableitet. Er ist ja auch ein kluger Realpolitiker, der weiß, dass er sein Land nur gemeinsam mit dem Westen vor dem Zugriff Russlands retten kann.

Und natürlich hat der Präsident die Moral auf seiner Seite, wenn er sagt, dass die Ukrainer das „verdient“ hätten, denn sie verteidigen die Freiheit unter Lebensgefahr. Daher ist auch bei vielen in der Europäischen Union der Wille groß, Kiew schnell den Kandidatenstatus zu geben. Doch allein dieser erste Schritt in Richtung Aufnahme ist im Normalfall eine komplizierte Prozedur, die weit über ein Jahr in Anspruch nimmt. Doch was ist im Moment dieses Krieges normal? In den Brüsseler Fluren wird deshalb fieberhaft überlegt, wie das Verfahren verkürzt werden könnte.

Es wächst auch die Gefahr der großen Enttäuschung

Die EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen hatte die Hoffnungen geschürt, als sie sagte, dass die Ukraine zu Europa gehöre und „im Laufe der Zeit“ der EU beitreten könne. Das ist ein Standardsatz, den vor allem die beitrittswilligen Staaten auf dem Balkan seit vielen Jahren hören. Es ist kein deutliches Nein, aber ein verklausuliertes: Jetzt noch nicht! Doch im Kontext des Krieges gegen die Ukraine entfaltet diese Aussage eine ganz andere Wirkung. In den Ohren vieler Ukrainer wird damit das Tor zum Westen weit aufgestoßen.

Damit wächst allerdings auch die Gefahr der großen Enttäuschung. Denn eine „Ehren“-Mitgliedschaft kann es in der Europäischen Union nicht geben. Vor einem Beitritt müssen unzählige Kriterien wie etwa ein funktionierendes Rechtssystem, Gewaltenteilung, ein stabiles Wirtschaftssystem oder das Einhalten demokratischer Regeln erfüllt werden. Die Ukraine aber ist weit entfernt davon, die geforderten Standards einzuhalten.

[Alle aktuellen Entwicklungen im Ukraine-Krieg können Sie hier in unserem Newsblog verfolgen.]

Aus diesem Grund wird in Brüssel auch Kritik laut, dass die EU-Kommissionspräsidentin der Ukraine damit keinen Gefallen getan habe. Einige Länder wie Frankreich oder Dänemark stehen einer EU-Erweiterung generell skeptisch gegenüber. Befürchtet wird zudem, dass der am Dienstag auch vom Europaparlament unterstütze Kandidatenstatus im Zusammenhang mit den EU-Sanktionen gegen Russland und den Waffenlieferungen an die Ukraine im Kreml als zusätzliche Kampfansage interpretiert werden könnte. Angesichts des blutigen Krieges hat die Ukraine im Moment jede Unterstützung verdient. Und der Kandidatenstatus ist sicher einer jener vielen seidenen Fäden, an den sich die Menschen klammern, die für die Freiheit Europas in den Krieg ziehen. Allerdings könnte sich die derzeit so geeinte EU an dieser Frage wieder spalten – und das nützt dann weder der Union noch der Ukraine. Daher ist das ein sehr zweischneidiges Angebot.

Knut Krohn

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