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Josef Schuster ist seit November 2014 Präsident des Zentralrates der Juden in Deutschland.
© Thilo Rückeis

Zentralratspräsident Josef Schuster: „Es könnte sehr wohl auch Juden treffen“

Zentralratspräsident Josef Schuster spricht im Interview über die Stimmungsmache bei der AfD, Antisemitismus in Deutschland und Probleme mit kriminellen Flüchtlingen.

Herr Schuster, unmittelbar vor der Bundestagswahl sehen Umfragen die rechtspopulistische AfD bei gut zehn Prozent. Wie ist Ihnen zumute?

Das ist eine Prognose, die ich so nicht erwartet habe und die mich im negativen Sinne überrascht, ja, bedrückt. Ich hätte mir vor vier, fünf Jahren nicht vorstellen können, dass einer rechtspopulistischen Partei in Deutschland ein zweistelliges Ergebnis vorausgesagt wird.

Was verstört Sie an der AfD?

Es ist eine Partei, die gegen Minderheiten Stimmung macht. Im Moment vorwiegend gegen Muslime. Ich bin aber überzeugt: Wenn das Thema Muslime nicht mehr interessant sein sollte und es wäre zudem politisch wie gesellschaftlich opportun, dann könnte es sehr wohl andere Minderheiten treffen. Dazu zähle ich auch Juden.

Driftet Deutschland nach rechts?

Das ist kein Phänomen, das allein die Bundesrepublik betrifft. Es fällt ja auf, dass auch um uns herum Parteien Zulauf haben, die sehr weit rechts stehen. Denken Sie an Frankreich, Polen oder Österreich.

Aber Deutschland hat eine besondere Vergangenheit.

Das stimmt. Man war hierzulande womöglich lange Zeit der Meinung, wir seien stärker immun gegen rechte Tendenzen. Ich habe inzwischen das Gefühl, dass viele Menschen, vor allem im Internet, keine Hemmungen mehr haben, sich diskriminierend, rassistisch oder antisemitisch zu äußern. Das war früher schon latent an Gedankengut vorhanden. Jetzt spiegeln sich diese Meinungen auch auf den Wahlzetteln wider.

Wird so Rassismus wieder salonfähiger?

Es gibt einen Alltagsrassismus, der leider zu wenig problematisiert wird. Nach meinem Eindruck werden Menschengruppen schneller stigmatisiert als früher.

Empfinden Juden ein derartiges Klima als bedrohlich?

Als bedrohlich würde ich es nicht bezeichnen.

Wie dann?

Als Arzt weiß ich: Wer schon mal eine Lungenentzündung hatte, der achtet viel mehr darauf, ob hinter einem Husten nicht etwas Ernsthaftes steckt. Und um noch ein anderes Bild zu bemühen: Ich bin nicht überzeugt, dass diese Welle wieder abebbt.

Warum hält sich Antisemitismus unter Deutschen so hartnäckig?

Das ist ein über Generationen tradierter Antisemitismus. Da haben sicherlich beide christlichen Kirchen eine Mitschuld. Hier wurde über Jahrhunderte von der Kanzel Judenfeindlichkeit gepredigt. Auf diesem Boden hat nationalsozialistische Propaganda gut gefruchtet. Es ist erstaunlich, heute noch zu erleben, wie sich Vorurteile über Juden in der Bevölkerung halten.

Welche zum Beispiel?

Mich hat neulich jemand gefragt, warum Juden keine Blumen auf ihre Gräber legen, sondern Steinchen. Ich habe ihm das dann erläutert: Wüstenwanderung, Beerdigung, wilde Tiere, beste Möglichkeit, um das Ausbuddeln zu verhindern. Er war überrascht, weil seine Eltern es ihm anders erklärt hatten. Die Steinchen würden draufgelegt, um bei der Wiederauferstehung auf Jesus werfen zu können. So etwas hören Sie noch 2017! Und von jemandem, von dem ich überzeugt bin, dass er nicht antisemitisch eingestellt ist.

Muss man sich mit einem gewissen Antisemitismus abfinden?

Wir hatten in der deutschen Bevölkerung in den vergangenen Jahrzehnten konstant 20 Prozent, die antijüdische Ressentiments haben. Vor drei oder vier Jahren hat eine Untersuchung ergeben, dass jeder vierte Deutsche keinen jüdischen Nachbarn haben will. Dieses Gedankengut ist tief verwurzelt bei einem Teil der Bevölkerung. Ich bin nicht so optimistisch, zu glauben, dass sich daran etwas ändern wird.

Fürchten Sie, dass sich mit einer AfD im Bundestag das gesellschaftliche Klima weiter verschärft und dann womöglich auch Stimmung gegen Juden gemacht wird?

Selbst wenn die AfD ein zweistelliges Ergebnis schaffen sollte, so ist doch klar, dass die überwiegende Mehrheit in unserem Land zum demokratischen Spektrum gezählt werden kann. Das gilt ebenfalls für den künftigen Bundestag. Ich gehe davon aus, dass jene etablierten Parteien, die im Parlament vertreten waren oder sein werden, sich ihrer diesbezüglichen Verantwortung bewusst sind.

Was löst es in Ihnen aus, wenn Alexander Gauland als führendes Mitglied der AfD der „Entsorgung“ von Staatsministerin Aydan Özoguz das Wort redet?

Das ist eine Wortwahl, die an dunkle Zeiten erinnert und inakzeptabel ist. Aber sie war mit Bedacht gewählt. Denn es geht der AfD darum, gezielt zu provozieren. Mit derartigen Äußerungen kommt man eben schnell in die Medien. Und ein Teil der Bevölkerung scheint solche Aussagen zu goutieren.

Die AfD fordert auch eine erinnerungspolitische Wende in Deutschland. Immer wieder ist von „Schuldkult“ die Rede, das Holocaust-Mahnmal wird als ein Denkmal „der Schande“ bezeichnet. Muss man so etwas aushalten?

Das gehört in die Kategorie „bewusste Provokation“. Zum Glück gab es offenbar keinen seriösen Politiker, der sich dieser Darstellung angeschlossen hat. Selbst innerhalb der AfD löste Björn Höcke zumindest offiziell Unmut aus. Das Ausschlussverfahren wird allerdings meiner Meinung nach bislang sehr halbherzig betrieben.

Wie ist es um die Erinnerungskultur in Deutschland bestellt?

Sie hat sich in den vergangenen Jahren zum Positiven gewandelt. Mit dem Ableben der Tätergeneration ist man offenbar sehr viel mehr bereit, die Vergangenheit zu beleuchten und die richtigen Schlüsse daraus zu ziehen. Die berüchtigte Schlussstrich-Mentalität ist keine, die von einer Mehrheit der Deutschen vertreten wird.

Im ersten Halbjahr 2017 ist die Zahl antisemitischer Straftaten wieder angestiegen. Spüren Sie Judenfeindlichkeit im Alltag?

Der Antisemitismus hat sich gewandelt. Es geht weniger um direkte körperliche Bedrohung. Vielmehr drückt sich Antisemitismus in Antizionismus aus.

Inwiefern?

Man wettert gegen Israel – und meint Juden. Wenn Israel pauschal und denunziatorisch angegriffen wird, dann ist eben klar, gegen wen sich das letztendlich richtet. Klar ist aber auch: Selbstverständlich darf die Politik einer israelischen Regierung kritisiert werden. Doch wenn das Existenzrecht Israels infrage gestellt oder Juden generell für einen Missstand verantwortlich gemacht werden, ist die rote Linie überschritten.

Sie selbst haben vor einiger Zeit betont, es sei gerade in Vierteln mit einem hohen muslimischen Bevölkerungsanteil nicht ratsam, sich mit einer Kippa zu zeigen. Halten Sie an dieser Warnung fest?

Ja. Auch wenn mich die Aufregung vor zwei Jahren überrascht hat. Ich war der Meinung, eine Binsenweisheit ausgesprochen zu haben. Fakt ist: Antisemitismus ist unter einigen Muslimen sehr verbreitet. Das heißt aber nicht, dass alle Muslime Antisemiten sind! Viele Juden in unseren Großstädten sind im Übrigen inzwischen generell vorsichtig geworden, sich durch äußere Zeichen zu erkennen zu geben. Das gilt nicht nur für muslimisch geprägte Stadtteile.

Berlins Regierender Bürgermeister Michael Müller sagte damals, es gebe in der Hauptstadt keine No-Go-Areas.

Ich wäre froh, wenn es so wäre! Aber in Berlin wurde zum Beispiel Rabbiner Daniel Alter überfallen.

Im Bezirk Neukölln würden Sie nicht mit einer Kippa auf die Straße gehen?

Definitiv nicht. In manch anderem Bezirk aber auch nicht.

Sehen Sie denn im Antisemitismus unter Flüchtlingen eine Gefahr?

Judenfeindliche Ressentiments gibt es unter Flüchtlingen sicherlich. Doch bisher war keine signifikante Zahl von antisemitischen Vorfällen durch Flüchtlinge zu beobachten.

Juden können also aufatmen?

Das wäre verfrüht. Die Flüchtlinge haben derzeit ganz andere Sorgen. Sie müssen die Sprache lernen, sich ein neues Leben aufbauen, die Familie über die Runden bringen. Aber was ist dann? Schon heute ist zu hören, dass zwar in den Integrationskursen deutsche Werte und die deutsche Geschichte vermittelt werden, aber in den Kursen die Zeit dafür sehr knapp bemessen ist. Und am Abend sitzen vermutlich viele arabischstämmige Flüchtlinge vor dem Fernseher und nutzen arabische Sender, in denen antisemitische Vorurteile verbreitet werden.

Was folgt daraus?

Dass mit ein paar Stunden Integrationskurs plötzlich keine andere Meinung in den Köpfen verankert werden kann.

Was muss der deutsche Staat tun, um da keine offene Flanke zu bieten?

Zum einen muss die Wissensvermittlung in den Kursen etwa über die Schoa oder über Israel verbessert werden. Und man muss entsprechenden Ansätzen sehr klar entgegentreten, wenn es etwa antisemitische Äußerungen gibt. Da muss der Staat die Möglichkeiten des Strafrechts auch ausschöpfen und darf nicht so – wie ich es manchmal empfinde – nachsichtig sein.

Empfinden Sie es selbst als Gratwanderung, auf Probleme wie muslimischen Antisemitismus aufmerksam zu machen, aber gleichzeitig nicht zu einem antimuslimischen Klima beizutragen?

Die Gratwanderung ist, nicht den Applaus von der falschen Seite zu bekommen. Deshalb betone ich immer wieder, wie viel Verständnis von jüdischer Seite für Flüchtlinge besteht. Ich weise unabhängig davon auf Probleme hin - nicht um Flüchtlinge oder Muslime zu diffamieren, sondern um diese Probleme auch aktiv angehen zu können.

Sie haben es gerade angespielt: Wenn ein Flüchtling straffällig wird, wie muss Deutschland mit diesen Menschen verfahren? Abschieben?

Wer unsere gesellschaftlichen Normen massiv verletzt – Gleichberechtigung von Mann und Frau, Antisemitismus – dem muss man ein deutliches Zeichen setzen. Das heißt nicht gleich Abschiebung. Aber es muss schon eine Sanktionierung sein, die eventuell auch ein gewisses abschreckendes Potenzial hat.

Streichung von Leistungen?

Zum Beispiel. Bei Straffälligkeit müssen die Gesetze konsequent angewendet werden. Bei jemandem, der schwer kriminell wird, muss ganz klar eine Ausweisung geprüft werden.

Heißt das auch in Länder wie Afghanistan, wo Krieg herrscht?

Eine Abschiebung in ein Gebiet, wo derjenige mit Leib und Leben bedroht ist, halte ich für problematisch.

Wie muss eine Integration von Flüchtlingen idealtypisch laufen?

Wer sich einbildet, man könne Menschen innerhalb von zwei Jahren in die deutsche Gesellschaft integrieren, der träumt. Bei der Zuwanderung der Juden aus den Staaten der ehemaligen Sowjetunion, die in den 90er Jahren kamen, haben wir das erlebt. Die hatten glücklicherweise Andockmöglichkeiten in der jüdischen Gemeinde und größtenteils eine gute Ausbildung. Trotzdem dauerte die Integration eine Generation. Ich sehe aber erhebliche Defizite bei der Integrationshilfe seitens muslimischer Gemeinden. Es gibt eine ganze Reihe von Moscheegemeinden, die nicht unbedingt den Wertekanon, den wir in Deutschland gewohnt sind, als den ihren sehen. Wenn Flüchtlinge mit solchen Moscheegemeinden in Kontakt kommen, werden sie eher in ihrer bisherigen Haltung bestätigt als in die deutsche Gesellschaft integriert.

Sind Sie weiterhin für eine Obergrenze?

Ich war nie für eine Obergrenze. Mit meiner Aussage Ende 2015 wollte ich lediglich deutlich machen, dass die Kommunen in der Versorgung der Flüchtlinge so etwas wie Kapazitätsgrenzen haben. Aber jetzt sind wir in einer Situation, wo die Flüchtlingszuwanderung deutlich geringer ist. Ich bin der Meinung, dass eine – ich sage ganz bewusst – Begrenzung auf Grundlage unseres Asylrechts und eine europaweite Verteilung sicherlich sinnvoll sind.

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