Welche Meinungen dürfen Medien verbreiten?: „Es hat gefährliche Züge, wenn nur einige wenige entscheiden, was 'wahr' ist“
Aufstand bei der „New York Times“, Trump gegen Twitter, Rebellion bei Facebook: Ist in den USA die Meinungsfreiheit bedroht? Ein Gespräch mit Jacob Heilbrunn.
Jacob Heilbrunn ist Chefredakteur des Debattenmagazins „The National Interest“. Er ist Autor des Buches „They Knew They Were Right: The Rise of the Neocons“.
Herr Heilbrunn, bei der „New York Times“ liegen die Nerven blank. Entzündet hat sich der Streit an einem Gastbeitrag des republikanischen Senators Tom Cotton, der den Einsatz des Militärs bei Anti-Rassismus-Demonstrationen fordert. Nach heftigen Protesten vieler hundert Mitarbeiter der Zeitung hat nun der Chef der Meinungsseite, James Bennet, fristlos gekündigt, sein Vize wurde versetzt. War die Veröffentlichung ein Fehler?
Absolut nicht. Es war notwendig, diese Kolumne zu drucken, weil sie Tom Cotton entlarvt.
Hätten Sie den Beitrag in Ihrem Magazin veröffentlicht?
Auf alle Fälle, ich hätte mich gefreut, ihn publizieren zu können. Eine Meinungsseite existiert durch Kontroversen. Wenn dort jeden Tag dasselbe Weltbild verbreitet wird, verliert sie ihre Existenzberechtigung. Der Liberalismus verpflichtet jeden von uns, sich liberal zu benehmen. Wir dürfen Meinungen nicht unterdrücken, sondern müssen sie drucken.
[Mehr zum Thema: Aufstand bei der „New York Times“ – Mitarbeiter der Zeitung laufen Sturm gegen einen Gastbeitrag]
Würde der Einsatz der Armee gegen Demonstranten nicht zu einer Eskalation der Gewalt führen?
Vielleicht. Aber es ist doch sinnvoll, dass die Bevölkerung weiß, was ihre führenden Politiker denken, besonders die auf der rechten Seite. Übrigens hat Donald Trump das Recht, abgeleitet aus einem Gesetz von 1807, die Armee im Notstandsfall innerhalb Amerikas einzusetzen. Was Cotton befürwortet, ist also nicht illegal, sondern völlig legal. Ob es sinnvoll oder vernünftig oder klug ist, ist eine ganz andere Frage.
Aber muss es eine Kolumne sein? Kann die Zeitung eine solche Position nicht auch in einem nachrichtlichen Text transportieren, also ohne dem Autor die ganz große Bühne zu bieten?
Natürlich geht das, aber der Effekt ist größer, wenn der Text als Kolumne erscheint. Dadurch hat der Leser die Möglichkeit, diese Meinung ausführlich in einem Kontext dargelegt zu bekommen und zu verstehen. Ist es denn besser, den Eindruck zu erwecken, angeblich gefährliche Positionen zu zensieren?
Die Trump-Administration hat an der Grenze zu Mexiko Familien von Einwanderern getrennt, Kinder von ihren Eltern isoliert. Sollte eine Zeitung eine solche Praxis durch einen Gastbeitrag rechtfertigen lassen?
Ja, warum nicht? Es ist eine abscheuliche Praxis, aber sie wäre durch Heimlichtuerei und das Verschweigen der dahinterstehenden Motive nicht besser geworden. Womöglich wäre der Widerstand gegen diese Praxis durch einen solchen Gastbeitrag noch größer geworden.
Wo ziehen Sie die Grenze? Würden Sie auch einem Repräsentanten des Ku-Klux-Klan ein Forum bieten?
Meine persönliche Grenze verläuft bei Antisemitismus und Rassismus. Ich würde einem Vertreter des Ku-Klux-Klan keine Gelegenheit bieten, seine Ansichten zu veröffentlichen.
Ist nicht die Aufforderung Cottons, das Militär bei Anti-Rassismus-Protesten einzusetzen, ein Aufruf zur Gewalt?
Nicht aus seiner Perspektive. Er kann behaupten, dass die Soldaten schließlich nur gegen Gewalttäter und Plünderer vorgehen sollen. Er hat das in dieser Hinsicht relativ vorsichtig formuliert. Und ich betone erneut: Ein solcher Einsatz wäre aufgrund des Gesetzes aus dem Jahre 1807 legal gewesen.
Eine „New-York-Times“-Kolumnistin schrieb, Cottons Position sei faschistisch. Hat sie Recht?
Cotton hat faschistische Züge, weil er im allgemeinen in militaristischen Kategorien denkt. Er ist ein knallharter Konservativer, der die US-Armee überall hinschicken möchte. Er ist eiskalt, auch in Bezug auf einen möglichen Krieg gegen den Iran.
Wie erklären Sie sich den Aufstand innerhalb der „New York Times“ gegen die Veröffentlichung des Artikels?
Wir erleben einen Krieg der Generationen. Die jüngeren Zeitungs-Kollegen haben andere Werte als die älteren. Objektivität und Pluralismus gelten nicht mehr als oberste Ziele. Nur was „wahr“ ist, soll verbreitet werden. Allerdings wollen die jüngeren Kollegen selbst bestimmen, was Wahrheit ist. Das hat gefährliche Züge.
Ist das antiliberal?
Es ist illiberal.
Donald Trump freut sich über den Aufstand bei seinem Lieblingsfeind, der „New York Times“. Ist der US-Präsident ein glaubwürdiger Streiter für die Meinungsfreiheit?
Niemals. Trump will das Gegenteil. Er bedroht permanent die Medien, spricht von „Fake News“ und „Feinden der Bevölkerung“. Er will Gesetze ändern, um Medien leichter verklagen zu können. Was bei der „New York Times“ gerade geschieht, freut ihn allerdings, denn die Zeitung zerfleischt sich.
Trump hat sich mit Twitter angelegt, weil der Kurznachrichtendienst angefangen hat, seine Tweets einem Faktencheck zu unterziehen. Warum macht Twitter das erst jetzt?
Unsere Gesellschaft verändert sich fundamental. Auch bei Twitter hat die junge Generation den Hals voll. Twitter ist ein privates Unternehmen und kann tun und lassen, was es will.
[Mehr zum Thema: Urheberrechtsverletzung des Präsidententeams – Twitter deaktiviert Trumps Floyd-Video]
Facebook-Chef Mark Zuckerberg hat für sein Unternehmen angekündigt, kein „Wächteramt über die Wahrheit“ übernehmen zu wollen. Doch viele Mitarbeiter von Facebook fordern nun, ähnlich wie Twitter vorzugehen. Richtig so?
Zuckerberg übertreibt maßlos. Er muss nicht zum Wächter über die Wahrheit werden, sondern kann kleine Schritte gehen, um das Schlimmste zu verhindern, was auf Facebook gepostet wird. Aber natürlich profitiert sein Unternehmen von extremen Kontroversen.
„New York Times“, Twitter, Facebook: Ist in der Trump-Ära die Meinungsfreiheit in Amerika bedroht?
Noch nicht. Aber wenn Trump wiedergewählt wird, erleben wir die Vollendung des Aufbaus einer autoritären Regierung in den USA. Dann wird er der „New York Times“, Twitter und Facebook das Leben zur Hölle machen.