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Markus Dröge ist seit November 2009 Bischof der Evangelischen Kirche Berlin-Brandenburg-schlesische Oberlausitz.
© Mike Wolff

Bischof Markus Dröge: „Es gibt eine neue Zuwendung zur Kirche“

Im Tagesspiegel-Interview spricht Bischof Markus Dröge über die zunehmende Suche nach geistiger Heimat in einer unübersichtlich gewordenen Gesellschaft.

Mein Kollege Andreas Austilat hat vor einigen Wochen den Alltag eines brandenburgischen Landpfarrers geschildert. Der berichtete, einmal sei überhaupt niemand in den Gottesdienst gekommen. Da habe er einfach weiter geläutet. Aufgeben käme für ihn nicht in Frage. Wenn der Gottesdienst nicht mehr die Leute anspräche, müsse man sich eben was anderes überlegen. Ist dieser Pfarrer ein Einzelfall oder symptomatisch?

Das ist mit Sicherheit ein Einzelfall, denn wenn eine Gemeinde merkt, dass ein Gottesdienst nicht besucht wird, überlegt sie sich in der Regel etwas anderes. Wir haben ja die unterschiedlichsten Gottesdienste für die verschiedensten Zielgruppen, Jugendgottesdienste, in der Schule, in Krankenhäusern…

Aber hier geht es um den Sonntagmorgen…

Wenn in Brandenburg in jedem Dorf eine Kirche steht, dann stammt diese vielfach aus einer Zeit, in der jeder Gutsherr seine eigene Kirche gebaut und selbst unterhalten hat und seine Bediensteten dort zum Gottesdienst gingen. Die Situation ist heute aber eine ganze andere auf dem Land.

Bei Youtube gibt es einen evangelischen Kanal, der heißt „Jana“. Eine der Influencerinnen, die dort ihren Platz haben, ist 20 Jahre alt. Sie erfuhr mit sechs, dass sie Krebs hat, und sagte zu ihrer weinenden Mutter: Mama, weine nicht. Gott schleppt uns da durch. Ist das eine moderne Form der Heilsgewissheit, dass eine junge Frau so etwas über Youtube tausenden ihrer Altersgruppe verkündet?

Heilsgewissheit heißt, dass ich zutiefst innerlich das Vertrauen habe, Gott sorgt für mich, gleich, was geschieht. Diese junge Frau hat dieses Vertrauen, und umso schöner, dass sie das in den neuen Medien so zum Ausdruck bringen kann – diese Medien sind ja auch immer dialogisch, da entstehen Gespräche, in denen sie vermutlich gefragt wird, wie sie denn zu diesem Vertrauen kommt und antworten kann.

"Große Sorgen um die Schöpfung"

Was ich zitierte, sind zwei Beispiele von religiösem Selbstbewusstsein in einer Zeit, von der ich nicht so genau weiß, ob sie sich immer noch von der Kirche abwendet oder ob wir schon wieder in einer Phase der Zuwendung sind.

Es gibt die Zuwendung zur Kirche, auch neue Zuwendung, die aber so vielfältig ist, wie heute alles in der pluralistischen Gesellschaft. Es gibt Menschen, die sich der Kirche zuwenden, weil sie sich große Sorgen um die Schöpfung machen. Die sehen, dass die Kirche viel Kraft darauf verwendet, sich für die Bewahrung der Schöpfung einzusetzen. Es gibt Menschen, die sehen, dass der Unterschied zwischen Arm und Reich immer größer wird, und die fragen, ob es überhaupt eine Institution gibt, die die Gesellschaft zusammenhält. Und es gibt diejenigen, die eine Familie gründen und Kinder bekommen und sich fragen: Welche Werte gebe ich eigentlich meinem Kind mit? Sie sind froh, wenn sie ihre Kinder in den Kindergottesdienst bringen können.

Es gibt aber auch einen Rückgang.

Ja, es gibt natürlich auch den Rückgang, etwa durch die demografische Entwicklung und auch durch Abwendung von der Kirche.

Die Zahl der evangelischen Kirchenmitglieder ging im Bereich der EKBO zwischen 2004 und 2017 um etwa 25 Prozent zurück. Ist der Schwund überall gleich stark?

Der Schwund ist im Osten Deutschlands immer noch etwas stärker, und wir haben immer noch das Nord-Süd-Gefälle – die Zahl der Kirchenmitglieder ist im Süden stabiler als im Norden Deutschlands. Insgesamt stellen wir fest, dass etwa die Hälfte des Rückgangs rein demografisch ist, die andere Hälfte passiert durch Kirchenaustritte zwischen 20 und 35, also in dem Alter, in dem die Menschen beruflich stark eingespannt sind und zum ersten Mal merken, dass sie auch einen Beitrag zu leisten haben, die Kirchensteuer. Wir werden künftig gerade Menschen in diesem Alter deutlicher machen müssen, was Menschen an ihrer Kirche haben.

Diese Altersschicht, die Sie ansprechen, ist ja auch jene, in der man häufig eine Familie gründet. Nicht nur in dieser Phase, sondern auch in bestimmten Regionen ist die Kirche offenbar wieder attraktiver geworden. Das geht oft einher mit einem neuen bürgerlichen Selbstbewusstsein. In gut situierten Berliner Randregionen gehört Kirche wieder einfach dazu, und das schon seit einer Reihe von Jahren, wobei sich das nicht mit einer bestimmten parteipolitischen Fixierung verbindet.

Ja. Ich habe in diesem Jahr zu Ostern in Kleinmachnow einen neuen Kirchensaal eingeweiht, weil dort das Gemeindeleben durch viele Zuzüge so blüht, dass ein größerer Raum für Gottesdienste notwendig war. Gerade in dieser Generation, die nicht nur bürgerlich ist, sondern auch sehr gesellschaftsbewusst, die ökologische Fragen und die nach Gerechtigkeit stellt, gibt es eine neue Zuwendung zur Kirche, weil man in einer unübersichtlich gewordenen Welt die Frage stellt: Wo bin ich eigentlich geistig beheimatet? Wir erleben das auch in der Jugendarbeit. Der ganz überwiegende Teil der evangelischen Jugendlichen nimmt weiterhin am Konfirmandenunterricht teil. Viele Jugendliche lernen dort zum ersten Mal, was es bedeutet, ehrenamtlich tätig zu sein.

Ist das heute eine selbstbewusstere Kirche? Früher gab es, im Wilhelminismus, den Begriff der Einheit von Thron und Altar, das war typisch protestantische Staatskirche. Die katholische Kirche stand nie in dieser Versuchung der zu großen Staatsnähe. Ich habe den Eindruck, dass es heute eine Hinwendung zur Kirche gibt, weil sie alles andere als Staatskirche, als staatsnah ist.

Schon in der Weimarer Zeit ist die Trennung von Staat und Kirche erfolgt. Das stand schon in der Weimarer Verfassung. Doch dann hat die Evangelische Kirche tragischerweise diese Obrigkeitstreue dennoch weiter gelebt und hat sie auch auf die Nationalsozialisten übertragen. Ein Teil der Evangelischen Kirche hat dann aber 1934 in der Barmer Theologischen Erklärung zum ersten Mal selbstbewusst gesagt: Wir sind unabhängig vom Staat. Diese Tradition hat sich nach dem Ende des „Dritten Reiches“ durchgesetzt und lebt bis heute. Jede ordinierte Pfarrerin, jeder ordinierte Pfarrer ist auf das Barmer theologische Bekenntnis verpflichtet.

Was heißt das aber nun?

Wir haben ein gutes, kritisch-partnerschaftliches Verhältnis zur Gesellschaft und zum Staat gefunden. Was wir zusammen tun, haben wir frei vereinbart, das ist jederzeit lösbar. Aber wir sind keine Kirche, die sich ins Private zurückzieht, sondern die gesellschaftlich sichtbar und wirksam ist.

"Frauen sind traditionell stärker im Ehrenamt engagiert"

Gibt es heute auch Kirchenarbeit in problematischen, in abgehängten Gebieten, etwa in den Großsiedlungen mit ihren oft schwierigen Sozialstrukturen?

Das Märkische Viertel und die Gropiusstadt sind beides gute Beispiele dafür, dass die modernen Gemeindezentren, die in den 1960er und 1970er Jahren gebaut worden sind, heute umgewandelt werden in Nachbarschaftszentren, gemeinwesenorientiert. Im Märkischen Viertel ist ein Familienzentrum entstanden und ein Zentrum, um die Integration von Flüchtlingen zu unterstützen. Die Zentren sind nicht mehr nur für evangelisches Gemeindeleben da, das ist zurück gegangen. Die Gemeinden wenden sich heute verstärkt den Bedürfnissen des Stadtteils zu, und das ist ja eine sehr gute Entwicklung.

Sind eigentlich mehr Jugendliche heute in der Kirche aktiv? Und mehr Frauen als Männer?

Wir können nachweisen, dass die, die sich in der Jugendarbeit engagieren, diejenigen sind, die später überdurchschnittlich ehrenamtlich tätig werden. Bei den Erwachsenen sind traditionell Frauen stärker im Ehrenamt engagiert als Männer. Was sich gewandelt hat, ist das Verhältnis im Pfarrdienst: Die Hälfte, teilweise mehr als die Hälfte im Pfarramt sind Frauen.

Gehören die Kirchen heute – ich frage das auch gerade vor dem Hintergrund der Flüchtlingskrise – im Sinne des Juristen und Rechtsphilosophen Ernst-Wolfgang Böckenförde zu jenen  stabilisierenden Faktoren, für die der Staat nicht sorgen kann, die aber für die Gesellschaft unverzichtbar sind?

Zumindest tragen wir gut dazu bei. Bei der Flüchtlingsthematik 2015 und in den Folgejahren waren wir tatsächlich an der Stelle stark präsent, an der der Staat Schwierigkeiten hatte. Wir haben mit dazu beigetragen, dass die Problematik bewältigt werden konnte. So verstehen wir uns auch. Evangelischer Christ sein heißt auch immer, Verantwortung für das Ganze zu übernehmen.

"Viele erwarten, dass wir uns für die Schöpfung einsetzen"

Was erwarten Menschen denn heute eigentlich von der Kirche?

In einer so pluralen Gesellschaft können wir nicht mehr sagen, was „die“ Menschen von der Kirche erwarten. Die einen erwarten, dass die Kirche etwas anbietet, für die Erziehung, auch für die religiöse Erziehung ihrer Kinder. Viele erwarten, dass wir uns für die Schöpfung einsetzen, weil sie sich Sorgen machen wegen des Klimawandels. Andere wenden sich der Kirche dort zu, wo wir Kunst- und Kulturarbeit machen, weil sie eine Sehnsucht haben, durch künstlerischen Ausdruck Spiritualität zu erleben. Insgesamt fragt man sich in einer unübersichtlichen, sehr global ausgerichteten Welt wohl auch: Was ist mit meiner Region, mit meinem Lebensraum? Welche Institution in meiner Heimat gibt mir ein Stück innere Sicherheit? Da ist die Kirche natürlich ein starker Faktor, nicht nur in Berlin, sondern auch in Brandenburg, wo die Gemeinschaft der Dorfkirche oft noch das einzige ist, was mit ihrer langen Geschichte die Identität des Ortes zum Ausdruck bringt.

Sie haben das Wort selbst erwähnt – Heimat. Gibt Kirche Heimatgefühl?

Auf jeden Fall. Ja. Kirche ist immer mit einer langen Tradition verbunden. Sie ist immer auch regional geprägt. Unser Verständnis von Heimat heißt aber nicht, das Eigene gegen das Fremde zu verteidigen. Theologisch ist Heimat immer etwas, was auch den Charakter des Vorläufigen hat. In der Bibel steht: Wir haben hier keine bleibende Statt (im Sinne von Stätte). Wir sind unterwegs, bereit für Veränderung.

Das Missbrauchsthema ist vor allem eines der katholischen Kirche. Aber es ist auch der Evangelischen Kirche nicht fremd. Welches Ausmaß hat das?

Anders als die öffentliche Diskussion vermuten lässt, sind wir schon länger mit dem Thema befasst. Wir bemühen uns seit Jahren, präventive Maßnahmen einzuführen. Wir haben seit 1991 zehn Missbrauchsfälle, die gemeldet worden sind im Bereich der EKBO. Es sind unter anderem drei Pfarrer, drei Erzieher, es ist auch ein ehrenamtliches Gemeindekirchenratsmitglied dabei. Wir gehen aber davon aus, dass es auch eine Dunkelziffer gibt. Natürlich gibt es für uns kaum etwas Schlimmeres als den Missbrauch des Vertrauens in die Kirche und ihre Mitarbeiter, da wir als Kirche für Vertrauen stehen, und wir müssen das auch vorbildhaft für andere aufarbeiten.

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