Syrien und Flüchtlinge: Es braucht einen neuen Marshallplan
Deutschland muss auf dem G20-Gipfeltreffen für massive Hilfen für Syriens Nachbarn werben - damit diese die Flüchtlinge versorgen können und nicht selbst kollabieren. Ein Kommentar.
Der Syrienkrieg ist jetzt ein Weltkrieg. Nicht allein wegen der von ihm ausgelösten Flüchtlingsströme, sondern auch wegen der Vielzahl der direkt involvierten Länder und der zentralen Lage Syriens in einer Region, die in puncto Sicherheit, Energie und Wirtschaft eine große weltweite Bedeutung hat.
Die Flüchtlingskrise wurde in unserer Wahrnehmung erst zu einer Krise, als 1 Prozent der Flüchtlinge nach Europa kamen. Nachdem die direkten Nachbarn Syriens mehr als vier Jahre lang Flüchtlinge in einer Größenordnung aufgenommen haben, die es seit dem Zweiten Weltkrieg nicht mehr gegeben hat, ächzen sie nun unter dieser Last.
Europa war nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs völlig zerstört und musste wieder aufgebaut werden, um die Weltwirtschaft wiederzubeleben. 100 Milliarden US-Dollar nach heutigem Wert strömten im Zuge des Marshallplans für den Wiederaufbau nach Europa. Rund 11 Prozent dieser Hilfe floss direkt nach Deutschland und leistete einen wichtigen Beitrag für das darauffolgende Wirtschaftswunder, das die Grundlage für die Stabilität und den Wohlstand der heutigen Bundesrepublik bildet. 1945 lag Deutschland in Trümmern und sah sich mit der Aufgabe konfrontiert, nahezu 12 Millionen Vertriebene zu ernähren und unterzubringen.
Nach 1945 flossen 100 Milliarden US-Dollar nach heutigem Wert nach Europa
Wie Europa vor siebzig Jahren leiden Syriens Nachbarn heute unter geschwächten Ökonomien mit massiver Arbeitslosigkeit, nicht funktionierendem Sozialwesen und riesigen Flüchtlingszahlen. Ein dem Marshallplan ähnliches Hilfsprogramm für das Überleben und die Stabilisierung der Nachbarstaaten Syriens würde einer Region im freien Fall helfen und Signale für eine politische Lösung in Syrien aussenden. Nachdem diese Staaten fast fünf Jahre lang Millionen syrische Flüchtlinge aufgenommen haben, benötigen sie nun Unterstützung wie Deutschland 1948, damit sie die Flüchtlinge versorgen und ihren eigenen Kollaps verhindern können, der die bereits verheerende Flüchtlingskrise weiter verschärfen würde.
Gastgeber des G20-Gipfels vom 15. bis 16. November ist die Türkei. Syriens Nachbar ist das Bindeglied zwischen Europa und dem Nahen Osten und beherbergt derzeit mehr als zwei Millionen syrische Flüchtlinge. Vor diesem Hintergrund wird sich ein Gipfeltreffen abspielen, bei dem es um wirtschaftliche Zusammenarbeit von Ländern geht, die zusammen mehr als 85 Prozent des weltweiten Bruttosozialprodukts repräsentieren.
Deutschland gehört zu den größten bilateralen Gebern an Syriens Nachbarn und hat seit Beginn der Krise mehr als 1 Milliarde Euro Hilfsgelder bereitgestellt. Im September 2015 erklärte sich die EU bereit, der Türkei für die Flüchtlinge im Land 1 Milliarde Euro zu zahlen. Auf der G7-Konferenz der Außenminister hat Deutschland zusätzliche 100 Millionen Euro für UN-Hilfsleistungen in der Region bereitgestellt. Das sind beträchtliche Summen, die aber angesichts der verheerenden und potenziell destabilisierenden Lage der Region nicht ausreichen.
Syriens Nachbarn leiden unter geschwächten Ökonomien
Deutschland hat innerhalb der EU eine mutige Rolle in der Flüchtlingskrise übernommen und sollte nun auch mutig die anderen G20-Teilnehmer dabei anführen, Finanzmittel für Syriens Nachbarn auf den Weg zu bringen, um den Grundstein für einen Wiederaufbau- und Entwicklungsplan für die Region zu legen. Die zahllosen Flüchtlinge würden sich nicht auf den gefährlichen Weg nach Europa machen, wenn sie sicher und ruhig in ihrer Heimat-Region leben könnten. Aber Sicherheit und Wohlstand sind abhängig von Infrastruktur, Arbeitsplätzen und Schulen. Deutschland sollte auch deshalb vorangehen, weil internationale Partner erwarten, dass Deutschland angesichts seiner ökonomischen Stärke und seines Einflusses auf Akteure wie Russland, die für die Lösung des Konflikts von zentraler Bedeutung sind, Verantwortung übernimmt.
Ruprecht Polenz war von 1994 bis 2013 CDU-Abgeordneter des Bundestags und von 2005 bis 2013 Vorsitzender des Auswärtigen Ausschusses.
Ruprecht Polenz