Urteil in Göttinger Transplantations-Skandal erwartet: Erschwindelte Organe
Vor drei Jahren lösten Enthüllungen über Manipulationen bei Organtransplantationen an der Uniklinik Göttingen einen der größten Medizinskandale in Deutschland aus. Am Mittwoch soll das Urteil gegen den leitenden Chirurgen fallen.
Als das „Göttinger Tageblatt“ vor drei Jahren als erste Zeitung über mögliche Manipulationen bei Leberverpflanzungen an der örtlichen Universitätsklinik berichtete, ahnte niemand, dass damit einer der größten Medizinskandale in der Bundesrepublik losgetreten war. In der Folge stellte eine Prüfkommission der Bundesärztekammer in vier der 24 deutschen Transplantationszentren schwerwiegende Richtlinienverstöße bei Organverpflanzungen fest. Außer in Göttingen ergaben sich nach dem Bericht der Kontrolleure in Leipzig, München und Münster Anhaltspunkte für systematische Falschangaben der beteiligten Ärzte.
Die Vorgänge in Göttingen versucht seit 20 Monaten das Landgericht der Universitätsstadt juristisch zu erhellen. Angeklagt ist Professor Aiman O., bis 2012 leitender Transplantationschirurg an der Universitätsmedizin. Die in der Sache federführende Staatsanwaltschaft Braunschweig hat den 47-Jährigen wegen versuchten Totschlags in elf Fällen sowie wegen Körperverletzung mit Todesfolge in drei Fällen angeklagt.
O. soll bei der Meldung von Daten seiner Patienten an Eurotransplant, die zentrale Vergabestelle von Spenderorganen, absichtlich falsche Angaben gemacht beziehungsweise veranlasst haben. In ihrem sechsstündigen Plädoyer hatte Oberstaatsanwältin Hildegard Wolff vorgetragen, wie auf O.s Anweisung hin Formulare und Meldelisten manipuliert worden sein sollen, damit bestimmte Patienten auf der Warteliste für Lebertransplantationen, dem MELD Score (Model for Endstage Liver Disease), nach vorn rücken konnten und schneller ein Spenderorgan zugeteilt bekamen.
Der 2002 eingeführte Score beruht auf drei Laborparametern und weiteren Daten und gibt den Schweregrad einer Lebererkrankung an. O. habe die vermeintliche Dringlichkeit einer Verpflanzung bei seinen Patienten in den Faxen oder Mails an Eurotransplant vortäuschen lassen, indem zum Beispiel Dialysebehandlungen angab, die nie stattgefunden hätten. Schwerer erkrankte Menschen hätten deshalb keine Organe zugeteilt bekommen und seien möglicherweise gestorben.
In fünf Fällen transplantierte er Organe an Alkoholiker
In fünf dieser Fälle hat sich O. der Staatsanwaltschaft zufolge auch über eine Richtlinie der Bundesärztekammer hinweggesetzt, nach der Alkoholiker vor Ablauf einer sechsmonatigen Abstinenzzeit nicht transplantiert werden dürfen. Zudem soll der Arzt in drei Fällen Organe verpflanzt haben, obwohl dies medizinisch gar nicht notwendig war. Die Patienten waren später gestorben.
Um die Vorwürfe aufzuklären, hörte die Schwurgerichtskammer an 64 Prozesstagen 101 Zeugen und neun Sachverständige. Aus Sicht von Oberstaatsanwältin Wolff haben die Vernehmungen und das Aktenstudium die Anklagepunkte bewiesen. Die Motive von O. seien übertriebener Ehrgeiz, Geltungssucht, Machtstreben und Bonuszahlungen gewesen – für jede Transplantation gab es von der Klinik 1500 Euro. „Er spielte Gott“, sagte Wolff. Sie fordert für den Beschuldigten eine Haftstrafe von acht Jahren.
Verteidigung verlangt Freispruch - alle Vorwürfe seien widerlegt
Die Verteidigung hingegen verlangt Freispruch. Sie hält alle Vorwürfe für widerlegt und hält der Staatsanwaltschaft vor, entlastende Aussagen und Gutachten außer Acht gelassen zu haben. Die Richtlinie der Ärztekammer zur Alkoholabstinenz halten die Rechtsanwälte Steffen Stern und Jürgen Hoppe schlicht für verfassungswidrig, weil sie eine Gruppe schwer kranker Menschen von Organverpflanzungen ausschließe.
O. hat die Anschuldigungen ebenfalls bestritten. „Ich war Tag und Nacht für die Patienten da“, sagte er. Sein Beruf als Arzt sei eine Lebensaufgabe für ihn gewesen, ihm sei es immer nur um das Wohl der Kranken gegangen.
Der Göttinger Medizinrechtler Gunnar Duttge spricht von einem „bislang beispiellosen Musterfall“. Niemand könne nachweisen, ob wirklich jemand geschädigt worden oder gar zu Tode gekommen sei. Der Ausgang des Prozesses gilt als völlig offen. Am Mittwoch will die Kammer das Urteil verkünden.
Ein Schöffe wurde abberufen - er hatte mit dem Angeklagten über gesundheitliche Beschwerden geplaudert
Das Verfahren durchlief einige juristische Klippen. So wurde einer der beiden Schöffen während des Verfahrens abberufen. Der Mann war in einer Sitzungspause wegen Beschwerden an seiner Hand mit dem angeklagten Arzt ins Gespräch gekommen. In einem späteren Telefonat hatte der Schöffe sich von dem Mediziner einen Spezialisten für Handchirurgie nennen und sich von diesem auch behandeln lassen.
Einen familiären Kollateralschaden gab es auch: Die bis dahin promovierte Ehefrau von O. verlor im vergangenen Sommer ihren Doktortitel. Die Universität Regensburg hatte die Dissertation der Zahnärztin als Plagiat der Doktorarbeit ihres Gatten eingestuft und die Promotion für ungültig erklärt. Dagegen zog die Zahnärztin vor das Verwaltungsgericht, doch das bestätigte die Entscheidung der Hochschule.
Während des Ermittlungsverfahrens war bekannt geworden, dass O. bereits vor seiner Göttinger Zeit gegen Bestimmungen der Ärztekammer verstoßen hatte. 2005 soll er jordanische Patienten verbotenerweise auf die Warteliste von Eurotransplant gesetzt und eine in Deutschland gespendete Leber in Jordanien verpflanzt haben.
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