Offene Fragen im Fall Lübcke: Ermittlungen bei allen V-Leuten der Sicherheitsbehörden
Sicherheitsbehörden untersuchen, wie lange Walter Lübcke im Visier der Rechten war. Er steht bis heute noch auf einer ihrer Listen.
Der Aufwand ist enorm, erscheint aber auch dem offenbar historisch einmaligen Verbrechen angemessen. Nach dem Mord an Walter Lübcke, mutmaßlich das erste tödliche Attentat eines Rechtsextremisten auf einen Politiker in der Bundesrepublik, „drehen wir jedes Steinchen um“, heißt es in Sicherheitskreisen. Mit „Steinchen“ sind auch die V-Leute des Verfassungsschutzes gemeint. Das Bundesamt in Köln und die 16 Behörden des Nachrichtendienstes in den Ländern befragen alle V-Leute, die in der rechten Szene unterwegs sind, nach dem tatverdächtigen Stephan E. Der vor einer Woche festgenommene Rechtsextremist gilt als dringend verdächtig, den Kasseler Regierungspräsidenten in der Nacht zum 2. Juni an dessen Haus erschossen zu haben. Eine DNA-Spur – es soll sich um einen Hautpartikel von E. auf Lübckes Kleidung handeln – hatte die Polizei auf die Spur von E. gebracht.
Bei der Aufklärungsaktion des Verfassungsschutzes geht es auch um die Frage, ob Stephan E. im Oktober 2015 an der Einwohnerversammlung im Kasseler Vorort Lohfelden teilnahm, bei der Lübcke von Rassisten massiv beschimpft wurde. Bei der Veranstaltung wurde über die Unterbringung von Flüchtlingen gesprochen. Rechte Krakeeler riefen bei der Ansprache des Kasseler Regierungspräsidenten „Scheiß Staat“ und andere Parolen. Lübcke konterte, wer die Werte des Zusammenlebens nicht vertrete, „kann jederzeit dieses Land verlassen“. Die Rechten kochten vor Wut. Im Internet folgte ein Shitstorm bis hin zu Morddrohungen.
Stephan E. habe sich nach der Einwohnerversammlung in einem Chat über Lübcke aufgeregt und ihn als „Volksverräter“ bezeichnet, berichtet der „Spiegel“ und beruft sich auf Ermittler. Der Tatverdächtige soll zudem den Auftritt Lübckes „sehr genau wahrgenommen“ haben. Ob Stephan E. auch bei der Veranstaltung war, ist allerdings offen. Das Haus des Tatverdächtigen ist nur zwei Kilometer vom „Bürgerhaus“ in Lohfelden entfernt.
Es gibt zudem Hinweise, dass Stephan E. auch nach 2010 weiterhin in der rechtsextremen Szene aktiv war. In dem Jahr hatte der Rechtsextremist die letzte von insgesamt sieben Strafen kassiert. Das ARD-Magazins „Monitor“ meldet, E. habe im März 2019 im sächsischen Mücka an einem konspirativen Treffen von Neonazis teilgenommen. Dabei soll E. zusammen mit Anhängern der Organisationen „Combat 18“ und „Brigade 8“ fotografiert worden sein. Bei Combat 18, die Zahl ist der Code für „Adolf Hitler“, handelt es sich um eine in England gegründete, rechtsterroristische Vereinigung. In der Bundesrepublik gibt es lose Strukturen. Dazu zählt die in mehreren Bundesländern aktive „Brigade 8“. Mitglieder von Combat 18 fuhren zum Schießtraining nach Tschechien. Die Sicherheitsbehörden halten Combat 18 für potenziell gefährlich. Auch wegen der Verbindungen zum international agierenden Skinhead-Netzwerk „Blood & Honour“. Dessen deutscher Ableger wurde im Jahr 2000 vom damaligen Bundesinnenminister Otto Schily (SPD) verboten. Auf den nun von „Monitor“ ausgewerteten Fotos soll auch der Anführer von Combat 18 in Deutschland zu sehen sein, der aus Hessen stammende Stanley R.
Eine alte Terrorgeschichte
Die Sicherheitsbehörden schauen sich auch eine alte, aber gleichwohl brisante Terrorgeschichte an. Der NSU hatte sich den Namen des hessischen CDU-Politikers notiert. Lübcke stand demnach schon früher im Fadenkreuz militanter Rechtsextremisten als öffentlich bekannt war. Uwe Böhnhardt, Uwe Mundlos und Beate Zschäpe, vom Januar 1998 bis November 2011 im Untergrund, erstellten und speicherten zahlreiche Adress- und Telefonlisten. In vom Bundeskriminalamt sichergestellten 90 000 elektronischen Datensätzen des NSU sind 10 116 Namen von Personen und Objekten enthalten – Lübcke ist dabei. Obwohl er „erst“ 2015 zum Hassobjekt der rechten Szene wurde, als er Flüchtlingsfeinden empfahl, sie könnten Deutschland verlassen.
Womöglich ist Lübcke schon in seiner Zeit als Abgeordneter des hessischen Landtags dem NSU aufgefallen. Der CDU-Mann war Vizevorsitzender des Unterausschusses für Heimatvertriebene, Aussiedler, Flüchtlinge und Wiedergutmachung. Bei der Wahl 2009 verpasste Lübcke ein Mandat im Landtag und wurde dann Regierungspräsident in Kassel. Hier hatte der NSU im April 2006 den türkischstämmigen Halit Yozgat erschossen. Dass die Terrorzelle überlegte, in Kassel einen weiteren Anschlag zu verüben und Lübcke ins Visier nahm, ist nicht auszuschließen. Ebenso wenig, dass Kasseler Neonazis dem NSU Hinweise auf den Politiker gaben.
Lübcke steht zudem bis heute auf der Liste des Islamhassers Michael M. Der Mann sammelt Namen von missliebigen Politikern, Journalisten, Künstlern und anderen Personen, die nach dem Vorbild der Nürnberger Prozesse gegen NS-Verbrecher vor Gericht gestellt werden sollen. Die Seite „Nürnberg 2.0 Deutschland“ tauchte im September 2011 im Internet auf, zwei Monate vor dem Ende des NSU. Sollte Lübcke schon im September 2011 auf der Seite gestanden haben, könnte die Terrorzelle von dort den Namen in ihr 10 000er-Archiv übernommen haben. Aber selbst wenn Lübcke erst später bei Nürnberg 2.0 eingetragen wurde, wäre er immer noch dem Risiko ausgesetzt gewesen, „dass Rechtsextremisten auf ihn aufmerksam werden, den Namen googeln und dann eine Straftat begehen“, sagen Sicherheitskreise.