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Bei der propalästinensischen Demonstration am Samstag in Neukölln kam es zu Ausschreitungen.
© dpa

Kampf gegen Antisemitismus in Deutschland: Erinnerungskultur allein reicht nicht

Selten tritt Judenhass in Deutschland so sichtbar, aggressiv und raumgreifend in Erscheinung wie zuletzt. Es gilt, alle Ursachen zu benennen. Ein Kommentar.

Ein Kommentar von Anna Sauerbrey

Es waren empörende Szenen, die sich am Samstag in mehreren Städten in Deutschland abspielten, besonders heftig in Berlin: In Neukölln schrien Demonstranten offen ihren Judenhass heraus, Menschen, die als Juden zu erkennen waren, wurden attackiert, die Polizei wurde mit Flaschen und Steinen angegriffen.

Selten tritt Antisemitismus in Deutschland so sichtbar, so aggressiv, so raumgreifend, so beängstigend in Erscheinung. Das ist umso beunruhigender, weil der Gewaltausbruch bei den Protesten gegen die Eskalation des Nahostkonflikts nur die sichtbarste Form eines Problems ist, das wächst.

Antisemitische Straftaten nehmen in Deutschland zu. 2020 erreichte ihre Zahl mit 2275 Fällen einen neuen Höchststand seit 2001. Getrieben wurde diese Entwicklung vor allem durch Straftaten aus der Szene der Corona-Maßnahmengegner: In der Pandemie verbreiteten sich antisemitisch konnotierten Verschwörungstheorien rasant.

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Die Gefahr für Juden in Deutschland geht aber auch von einem Antisemitismus unter Menschen mit Einwanderungsgeschichte aus, der sich, wie jetzt, am Nahostkonflikt entzünden und zu spontaner Gewalt führen kann. Experten betonen, dass die ganz überwiegende Mehrzahl der Taten weiterhin auf das rechtsextreme Milieu zurückzuführen ist.

Das relativiert die Gewalt der vergangenen Tage allerdings nicht. Es ist ein Problem, dass die deutsche Politik, die deutsche Gesellschaft, ernster nehmen muss – nicht zuletzt, weil der Krieg zwischen Israel und der Hamas sich hinziehen könnte und weil es durch die Zuwanderung aus dem arabischen und nordafrikanischen Raum in den Jahren 2015/2016 schlicht mehr Menschen gibt, die aus Regionen stammen, in denen antisemitische Ressentiments stärker verbreitet sind.

Suche nach einem differenzierten Bild

Die Chance, die in der neuen Sichtbarkeit liegt, ist es, ein differenzierteres Bild des Antisemitismus in Deutschland breiter zu verankern. Denn nur, wer alle Ursachen, alle Quellen eines Problems benennt, kann es effektiv bekämpfen.

Wichtig ist, die Vielfalt auszuleuchten. Wütende palästinensische Jugendliche demonstrierten neben türkischen Nationalisten. Teilweise ist dieser Antisemitismus politisch getrieben, um in Vorfeldorganisationen der Hamas Geld für den Terror zu sammeln. Teilweise waren die Proteste sicher auch Ausdruck von Gefühlen eigener Benachteiligung.

Zudem relativiert das nicht die Spielarten, die immer wieder in Berlin und andernorts zu besichtigen sind, wo sich bürgerlich aussehende deutsche Frauen und Männer in unfassbarer Geschichtsvergessenheit bei Querdenkerdemos gelbe Sterne anheften.

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Der Kampf gegen den Antisemitismus in Deutschland glaubte sich zu lange zu sicher im Gedenken an die Shoa. Diese Form des Kampfes gegen den Judenhass dominiert weiterhin die Lehrpläne in Schulen. Statt Lerneinheiten zum Dechiffrieren von antisemitischen Codes auf Verschwörungsblogs oder Aufklärung über die Ursachen des Nahostkonflikts, liest man an deutschen Schulen weiterhin „Damals war es Friedrich“, in der Hoffnung, dass das Gedenken auch gegen die modernen Wiedergänger des alten Hasses immunisieren möge.

Mehr Migranten abschieben?

Vor einer Erneuerung schrecken viele zurück, teils zu Recht. Neueren Formen des Antisemitismus mehr Aufmerksamkeit zu geben, birgt zwei Gefahren: Die deutsche Erinnerungskultur darf dadurch nicht geschwächt werden, gerade jetzt, da mit der AfD Geschichtsrevisionisten im Bundestag sitzen.

Die andere Gefahr ist die der Externalisierung des Problems. Ex-BND-Chef Gerhard Schindler forderte am Wochenende, dem Antisemitismus unter Migranten durch Abschiebungen zu begegnen. Diese Forderung schiebt allerdings vor allem das Problem ab – auf Gruppen, die vermeintlich ohnehin nicht richtig dazugehören.

Viele der Menschen, die am Samstag in Neukölln demonstrierten, dürften Kinder und Kindeskinder von Einwanderern sein, Deutsche. Nein, es bleibt ein deutsches Problem – in all seiner Vielfalt.

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