Türkische Regierung kritisiert das Verfassungsgericht: Erdogan gibt Zugang zu Twitter widerwillig wieder frei
Niederlage von Erdogan: Das Oberste Gericht der Türkei hat nun entschieden, die umstrittene Blockade des Online-Kurznachrichtendienstes wieder aufzuheben.
Die türkische Regierung hat sich dem Verfassungsgericht gebeugt und die Sperre des Kurznachrichtendienstes Twitter aufgehoben. Die staatliche Telekommunikationsbehörde gab den Zugang am Donnerstagnachmittag wieder frei; mit einer Umsetzung der Freigabe durch die türkischen Internet-Provider wurde am Abend gerechnet. Die Regierung von Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan machte aber deutlich, dass sie dem Urteil der Verfassungsrichter nur widerwillig folgte: Ein führender Politiker aus Erdogans Regierungspartei AKP warf dem Gericht unpatriotisches Verhalten vor.
Das Verfassungsgericht hatte die Sperrung am Mittwoch als verfassungswidrige Einschränkung der Meinungsfreiheit eingestuft und die sofortige Freigabe der Internetplattform angeordnet, die in der Türkei von zehn Millionen Menschen genutzt wird, seit dem 20. März aber gesperrt ist. Dennoch zögerte die Regierung mit der Umsetzung des Urteils. Das Verbot der ebenfalls gesperrten Videoplattform YouTube bleibt bestehen.
Erdogans Regierung hatte Twitter und YouTube außer Gefecht setzen lassen, weil die Plattformen zur Veröffentlichung von Korruptionsvorwürfen gegen das Kabinett genutzt worden waren. Der AKP-Vizechef Yasin Aktay warf dem Verfassungsgericht vor, sich im Streit zwischen dem türkischen Staat und Twitter auf die Seite des US-Unternehmens geschlagen zu haben. Das Gericht habe gegen die nationalen Interessen der Türkei gehandelt.
Offen blieb am Donnerstag zunächst, wie Erdogan auf mögliche neue Enthüllungen im Korruptionsskandal um seine Regierung reagieren will. Der Premier will die Veröffentlichung neuer Vorwürfe im anstehenden Präsidentschaftswahlkampf so gut es geht verhindern. Nach dem Sieg der AKP bei der Kommunalwahl am vergangenen Sonntag wird allgemein mit einer Kandidatur des 60-jährigen für das höchste Staatsamt gerechnet. Gewählt wird im August.
Der amtierende Staatspräsident Abdullah Gül sagte, spätestens Anfang Mai werde Klarheit über die Kandidatenfrage herrschen. Er werde sich mit Erdogan zusammensetzen. Gül, Mitbegründer der AKP und politischer Verbündeter von Erdogan, könnte zugunsten des Ministerpräsidenten auf eine neue Amtszeit verzichten. Für diesen Fall wird es möglicherweise einen an Wladimir Putin und Dmitri Medwedew in Russland erinnernden Ämtertausch zwischen Gül und Erdogan geben. Eine Kampfkandidatur um das Präsidentenamt wollen beide Politiker mit Rücksicht auf die Partei vermeiden. Selbst bei einer Einigung mit Gül und ohne neuen Ärger durch Twitter und YouTube wird der Weg zum Präsidentenpalast für Erdogan jedoch nicht einfach. Nach Umfragen halten ihn 55 Prozent der Wähler als Staatsoberhaupt für ungeeignet. Erdogan braucht politische Bundesgenossen, um bei der Direktwahl mehr als 50 Prozent der Stimmen zu bekommen.
Der Blick richtet sich vor allem auf die Kurden – denn Erdogan könnte der Kurdenpartei BDP die Unterstützung bei der Präsidentschaftskandidatur mit Zugeständnissen an die kurdische Minderheit versüßen. Denkbar wären mehr Rechte für die Kommunen in der Türkei, was der Forderung der Kurden nach regionaler Autonomie entgegenkäme.