zum Hauptinhalt
Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan.
© AFP/Adam Altan

Vor Brüsseler Gipfel: Erdogan gibt sich von Sanktionsdrohungen unbeeindruckt

Der türkische Präsident setzt darauf, dass die Türkei geostrategisch zu wichtig ist, um sie zu verärgern. Das könnte sich als Fehleinschätzung erweisen.

Die Türkei hat mit ihrer aggressiven Außenpolitik die westlichen Partner in Europa und Amerika so vor den Kopf gestoßen, dass ihr jetzt Sanktionen sowohl von der EU als auch von den USA drohen. Die EU will am Donnerstag und Freitag über Sanktionen gegen die Türkei wegen des Gasstreits im östlichen Mittelmeer entscheiden. Der US-Kongress verlangt vom scheidenden Präsidenten Donald Trump, er solle Ankara wegen der Anschaffung eines russischen Flugabwehrsystems bestrafen.

Trotzdem gibt sich der türkische Staatschef Recep Tayyip Erdogan unbeeindruckt. Er setzt darauf, dass Europa und Amerika die Türkei nicht verärgern wollen, weil sie geostrategisch zu wichtig ist. Das könnte sich als Fehleinschätzung erweisen, sagen manche Experten.

Erdogan betrachtet sein Land als Regionalmacht, die sich nicht von Europa oder Amerika einbinden lassen muss. Mit den EU-Ländern Griechenland und Zypern streitet sich die Türkei um die Grenzziehung und Gasvorräte im östlichen Mittelmeer. Mit den USA liegt Erdogan unter anderem wegen der amerikanischen Unterstützung einer Kurdenmiliz in Syrien über Kreuz. Auch das türkische Engagement im Kaukasus und in Libyen trifft im Westen auf Kritik.

Die NATO wirft der Türkei vor, mit der Anschaffung des russischen Flugabwehrsystems S-400 die integrierte Luftverteidigung des Bündnisses zu schwächen. US-Außenminister Michael Pompeo kritisierte die türkische Haltung bei einem NATO-Treffen vor einigen Tagen scharf und sagte, Ankara habe Russland ein „Geschenk“ gemacht. Die Beziehungen zwischen den USA und Griechenland sind dagegen so gut wie seit langem nicht mehr.

[Wenn Sie aktuelle Nachrichten aus Berlin, Deutschland und der Welt live auf Ihr Handy haben wollen, empfehlen wir Ihnen unsere App, die Sie hier für Apple- und Android-Geräte herunterladen können.]

Wie isoliert die Türkei im Westen inzwischen ist, zeigen die Vorbereitungen auf den anstehenden EU-Gipfel. Noch im Oktober hatte die deutsche Ratspräsidentschaft durchgesetzt, dass Sanktionen gegen die Türkei zurückgestellt wurden; Bundeskanzlerin Angela Merkel wollte den Gasstreit mit Ankara durch Verhandlungen beilegen. Doch das deutsche Vorhaben ist gescheitert. EU-Ratspräsident Charles Michel sagte nun, das „Katz-und-Maus-Spiel“ mit der Türkei müsse ein Ende haben.

Griechenland und Zypern verlangen Wirtschaftssanktionen gegen die Türkei, die Medienberichten zufolge die türkische Tourismusindustrie treffen könnten, einen der wichtigsten Devisenbringer des Landes. Auch Sanktionen gegen den türkischen Energiesektor, die Bankenbranche und das Transportwesen sind demnach möglich. Für die ohnehin bereits angeschlagene türkische Wirtschaft wären harte EU-Sanktionen verheerend. Erdogan hatte deshalb in den vergangenen Wochen ein Bekenntnis zur europäischen Zukunft der Türkei abgelegt und Reformbereitschaft bekundet.

Erdogan drohte, erneut Flüchtlinge nach Europa ziehen zu lassen

In jüngster Zeit ist der türkische Präsident aber wieder zu einer harten Linie zurückgekehrt. So drohte er kürzlich, erneut Flüchtlinge nach Europa ziehen zu lassen; im Frühjahr hatte die Türkei vorübergehend zehntausende Syrer und Afghanen an die Landgrenze zu Griechenland durchgewunken. „Die Tore gehen auf, die IS-Leute werden zu euch kommen“, sagte Erdogan an Europa gerichtet. „Dann seht ihr, was ihr davon habt.“ Kurz vor dem Gipfel griff Erdogan erneut den französischen Präsidenten Emmanuel Macron an, der die Sanktionsforderung gegen die Türkei unterstützt. Er hoffe, dass Frankreich Macron so bald wie möglich loswerde, sagte Erdogan.

Ernster als die möglichen Schritte der EU nimmt Ankara die amerikanischen Sanktionsdrohungen. Nach dem Ruf des US-Kongresses nach Strafen für die Türkei wegen der S-400 sagte der türkische Außenminister Mevlüt Cavusoglu, Probleme müssten im Dialog gelöst werden statt mit Drohungen und Sanktionen. Vor zwei Jahren hatte Trump mit Sanktionen die Freilassung eines in der Türkei inhaftierten amerikanischen Pastors durchgesetzt und die türkische Lira abstürzen lassen.

Engere Beziehungen zwischen EU und USA könnte Türkei schaden

Im Streit um die S-400 geht Erdogans Regierung bisher jedoch davon aus, dass die USA ein weiteres Abdriften der Türkei vom Westen verhindern wollen, auch wenn Trumps designierter Nachfolger Joe Biden dem Erdogan-Regime kritischer gegenübersteht als die scheidende Regierung in Washington. Möglicherweise fühle sich Ankara in dieser Hinsicht zu sicher, meint der amerikanische Türkei-Experte Ian Lesser. Die USA könnten auch ohne funktionierende Beziehungen mit der Türkei leben, sagte Lesser in einem Online-Forum der Denkfabrik Crisis Response Council.

Auch engere Beziehungen zwischen der EU und der neuen US-Regierung könnte negative Folgen für die Türkei haben. Bundesaußenminister Heiko Maas sagte dem „Spiegel“, Europa und Amerika müssten strategisch wieder enger zusammenarbeiten: „Wir dürfen nicht noch einmal ein Vakuum lassen, wie etwa in Libyen oder Syrien, das dann von anderen gefüllt wird, von Russland oder der Türkei.“

Zur Startseite