Nach neuen Sanktionen gegen die Türkei: Erdogan feiert Völkermörder und stellt Forderungen an die EU
Der türkische Präsident spielt die auf dem EU-Gipfel beschlossenen Sanktionen herunter. Erdogan sieht sein Land als eine der fünf wichtigsten Nationen der Nato.
Geschockt wirkte Recep Tayyip Erdogan nicht, als er nach dem Freitagsgebet in Istanbul vor Reportern über die Sanktionen sprach, die kurz zuvor in Brüssel von der EU beschlossen worden waren. Dank einiger vernünftiger Länder in der EU sei alles im Rahmen geblieben, sagte der türkische Staatschef entspannt – und stellte gleich eigene Forderungen an die EU.
Statt im März über weitere Türkei-Sanktionen zu sprechen, wie der Gipfel das angekündigt hatte, sollte sich die EU lieber darum kümmern, was sie der Türkei versprochen habe, etwa das visafreie Reisen, sagte Erdogan. Allerdings wird auch der Präsident verstanden haben, dass sich zunehmend eine Front aus Europa und den USA gegen die Türkei formiert.
Wegen des Streits mit der Türkei um Erdgas und Grenzziehungen im östlichen Mittelmeer hatten Griechenland und Zypern, unterstützt von Frankreich, heftige Sanktionen der EU gegen Ankara verlangt. Dazu gehörte der Ruf nach einem Waffenembargo.
Mehrere Länder wie Deutschland, Spanien und Italien bestanden aber darauf, der Türkei noch eine Chance zum Einlenken zu geben. Bundeskanzlerin Angela Merkel sagte nach dem Gipfel, die EU wolle türkische Provokationen nicht hinnehmen, gleichzeitig aber der Türkei weiter die Hand zum Dialog reichen.
Die Gipfelbeschlüsse blieben weit unterhalb der griechisch-zyprischen Forderungen und schrieben lediglich weitere Einzel-Sanktionen gegen Personen oder Firmen fest, die an der türkischen Erdgassuche in umstrittenen Gewässern des Mittelmeeres beteiligt sind; seit 2019 stehen bereits zwei Mitarbeiter des staatlichen türkischen Energieunternehmens TPAO unter EU-Sanktionen, doch das beeindruckt die Türkei nicht.
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Weitere Schritte will die EU bei einem Gipfel in drei Monaten besprechen. Der französische Präsident Emmanuel Macron, einer der schärften Kritiker der Türkei in der EU, sagte nach dem Gipfel, die Europäische Union nehme das destabilisierende Verhalten der Türkei nicht mehr hin.
Für Erdogan ist europäische Kritik im Mittelmeer-Streit reine Nebensache, weil er davon ausgeht, dass Europa auf die geostrategisch wichtige Türkei angewiesen ist. Erdogan und seine Berater sehen ihr Land als eigenständige Regionalmacht, die sich nicht vom Westen einbinden lässt und deren Interessen bis nach Afrika und China reichen. Bei einem Besuch in Aserbaidschan bezeichnete der türkische Präsident sein Land jetzt als eine der fünf wichtigsten Nationen in der Nato.
Dieser Anspruch, das aggressive Vorgehen im Mittelmeer und das Engagement in Libyen haben die Türkei auf Konfrontationskurs mit ihren traditionellen westlichen Partnern gebracht. Während die EU in Brüssel über Türkei-Sanktionen diskutierte, feierte Erdogan in Aserbaidschan mit Präsident Ilham Alijew den Sieg Aserbaidschans im Krieg gegen Armenien und strich dabei die Rolle der türkischen Hilfe für Baku heraus.
Erdogan schwärmte in Baku von Enver Pascha, einem der Machthaber in der Endphase des osmanischen Reiches. Enver verfolgte pan-türkische Ziele und war ein Hauptverantwortlicher für den Völkermord an den Armeniern.
Obwohl Erdogan beim EU-Gipfel glimpflich davonkam, deutete Merkel an, dass der Türkei in Zukunft ernster Ärger blühen könnte: Über Waffenlieferungen an die Türkei werde innerhalb der NATO gesprochen, sagte sie. Außerdem wolle sich die EU mit der Regierung des designierten amerikanischen Präsidenten Joe Biden abstimmen.
Türkei ist im Kreis der ehemaligen Verbündeten isoliert
Diese Sätze der Kanzlerin zeigen, wie isoliert die Türkei inzwischen im Kreis ihrer ehemaligen Verbündeten ist. Die scheidende US-Regierung unter Präsident Donald Trump will nach Medienberichten schon bald Sanktionen gegen die Türkei erlassen, weil Ankara das russische Flugabwehrsystem S-400 gekauft hat. Auch die US-Sanktionen werden möglicherweise recht sanft ausfallen, jedenfalls vorerst.
Doch allein die Meldungen über anstehende Sanktionen reichten aus, um den Kurs der türkischen Lira weiter zu schwächen. Erdogans Kommentare zu den möglichen US-Strafmaßnahmen klangen wesentlich weniger lässig als seine Reaktion auf den EU-Gipfel.
US-Sanktionen wären „respektlos“ der Türkei gegenüber, sagte der Präsident. Die Türkei sei kein normales Land, sondern besonders wichtig. Experten erwarten, dass Biden nach seinem Amtsantritt im Januar weniger Verständnis für die Türkei aufbringen wird als Trump, der einen guten persönlichen Draht zu Erdogan hat und unter anderem grünes Licht für eine türkische Intervention in Nordost-Syrien gab. Die Beziehungen zwischen der Türkei und dem Westen werden im neuen Jahr mindestens so gespannt bleiben, wie sie es 2020 waren.