900.000 Syrer auf der Flucht: Erdogan droht Assad mit „unmittelbar“ bevorstehender Offensive
Der türkische Präsident stellt dem syrischen Machthaber ein Ultimatum. Ein Militäreinsatz gegen Assads Armee in Idlib ist für ihn nur noch eine Frage der Zeit.
Im Nordwesten Syriens droht der Konflikt zwischen der Türkei und den von Russland unterstützten syrischen Streitkräften zu eskalieren. Ein militärischer Einsatz gegen die Armee von Machthaber Baschar al Assad in der Provinz Idlib stehe „unmittelbar bevor“, sollten sich diese nicht bis zum Monatsende hinter Ankaras Militärposten in der Region zurückziehen, sagte der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan am Mittwoch bei einer Rede in Ankara.
Türkische Einheiten könnten „ohne Vorwarnung eines Nachts auftauchen“, sagte Erdogan. Die Gespräche mit Russland als Assads Verbündetem gingen zwar weiter, sie hätten aber bisher kein Ergebnis gebracht, „das wir wollen“, monierte Erdogan.
Idlib ist das letzte Rückzugsgebiet der Assad-Gegner und wird in großen Teilen von militanten, der Terrororganisation Al Qaida nahestehenden Islamisten kontrolliert. Assad startete vor einigen Monaten eine Großoffensive, um die Provinz wieder vollständig unter Kontrolle zu bekommen. Russland warnte denn auch die Türkei unverzüglich vor einem Angriff auf syrische Truppen. Ankara und Moskau werfen sich gegenseitig vor, ihre Verpflichtungen aus dem Abkommen von Sotschi aus dem Jahr 2018 nicht einzuhalten.
Beide Seiten hatten sich damals auf die Einstellung der Kämpfe in Idlib geeinigt. Die Provinz ist eine von vier sogenannten Deeskalationszonen, in der die Waffen eigentlich schweigen sollen. Alle bisher vereinbarten Feuerpausen wurden aber kurz nach Inkrafttreten gebrochen.
Für die Bevölkerung hat die Gewalt schon heute verheerende Folgen – die ohnehin dramatische Lage könnte sich allerdings durch eine weitere türkische Offensive nochmals verschlimmern. Bereits jetzt bangen die Menschen tagtäglich um ihr Leben, sind verzweifelt, wissen nicht, wo sie sich noch vor der heranrückenden syrischen Armee und den Bombardements durch die russische Luftwaffe in Sicherheit bringen sollen.
Die meisten versuchen, es an die türkische Grenze zu schaffen. Die ist aber abgeriegelt. Fahrzeuge stauen sich dort kilometerweit. Den Vereinten Nationen zufolge sind allein seit Anfang Dezember fast 900.000 Zivilisten vertrieben worden. Unicef schätzt, dass mehr als die Hälfte von ihnen Kinder sind. Hilfsorganisationen wie die Welthungerhilfe sprechen von der „schlimmsten Flüchtlingskrise“ seit Ausbruch des Kriegs vor fast neun Jahren.
Die wenigen behelfsmäßigen Lager sind völlig überlastet. Die Menschen hausen deshalb in einfachen Zelten, auf den Ladeflächen von Lastern, in Garagen, Bauruinen oder einfach unter Bäumen. Und das bei winterlichen Temperaturen und Schnee.
Dort wie anderswo sind die Menschen den Kämpfen schutzlos ausgeliefert. „Die Angriffe treffen jetzt Gebiete, die bislang als sicher galten“, sagt Julien Delozanne von Ärzte ohne Grenzen. „Die Menschen, die in den Norden fliehen, werden in ständig schrumpfendes Gebiet zwischen der Frontlinie im Osten und der geschlossenen türkischen Grenze im Westen gedrängt.“ Internationalen Helfer warnen schon lange vor einer humanitären Katastrophe unermesslichen Ausmaßes.