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Staatsmann und Poet: Francois Mitterrand.
© AFP

Mon Berlin: Enthüllungen mit Niveau

Noch ein Buch über Privatheiten aus Politikerleben? Erste Reaktion: Oh non, bitte nicht! Davon hatten wir schon viel zu viel. Aber dieses Buch ist anders. Eine Kolumne

Eine Kolumne von Pascale Hugues

François Mitterrand würde am Mittwoch 100 Jahre alt. Zu dem Geburtstag veröffentlicht der Verlag Gallimard Briefe und Notizhefte, grafische Poesie: Collagen und kleine handgeschriebene Texte, die der frühere sozialistische Präsident an Anne Pingeot schickte. Die Frau, die er geliebt und versteckt hatte, ein halbes Jahrhundert lang – sie war es, die die Briefe sortierte und nun zur Publikation freigab. Heute, mit 73 Jahren, sagt sie, sei es Zeit, die Dinge in Ordnung zu bringen.
In Zeiten, in denen das Privatleben der Weltoberen von den Medien in die kleinsten Einzelteile zergliedert wird, der Öffentlichkeit so etwas Intimes wie Liebesbriefe zum Fraß vorzuwerfen, ist riskant. Wir sind übersättigt von unkeuschen Enthüllungen: die Bücher von Bettina Wulff, Valérie Trierweiler und all die anderen Vergeltungsschläge betrogener Ehefrauen gemischt mit exhibitionistischer Selbsttherapie. Man hat auch genug von diesen Ehemännern, die sich im Fernsehen zum Gespött machen, diesen Maitressen in Rage, diese Pärchen, die dort Seite an Seite auf dem Talkshowsofa ihre Geheimnisse ausbreiten. Too much information... Erste Reaktion auf diese neue Veröffentlichung also: Oh, non! Schon wieder! Erbarmen!
Ich weiß nicht, ob ich das Richtige getan habe“, sagt Anne Pingeot mit sanfter, eigenartiger Stimme in einem langen und schönen Gespräch auf dem Radiosender France Culture. Es ist das einzige Mal, dass diese diskrete Frau sich dazu äußert. Sie hat ihr ganzes Leben im Schatten jenes Mannes gelebt, der wie wohl kein anderer die Geschichte der V. Republik bestimmte. Die Briefe Mitterrands zeigen einen verwundbaren, humorvollen Mann. Hinter der Maske des Machtmenschen steckt einer, den seine Geliebte „mon Cecchino“ nennt, mein kleiner François.

Hoffentlich verschonen uns Gabriel und Stoiber mit Mausi- und Schatzi-Details

Es den Frauen von André Gide oder Paul Valéry gleichzutun und die aufbewahrten Briefe zu verbrennen, das konnte sie sich nicht vorstellen. Aber sie gleich zu veröffentlichen? Auf jeden Fall! Die Dokumente sind auf einem solch hohen literarischen Niveau, dass Trashliebhaber damit nichts anfangen können. Die Eloquenz Mitterrands ist legendär. Er gehört noch zu jener Generation von Politikern, die Sätze und Reden formen, ohne dass sich das Publikum fremdschämt. Man muss Nicolas Sarkozy eigentlich dafür danken, dass er sich zurückhalten konnte, seinen SMS-Verlauf mit Carla zu veröffentlichen. Es wäre zum Wohle aller gewesen, hätte niemand die Bonmots und Pedanterien von François Hollande in einem kürzlich erschienenen Buch verschriftlicht. Und ich bitte flehentlich, auf Knien, wenn nötig, darum, dass die Herren Gabriel und Stoiber uns ihre epistolaren Bemühungen mit Schatzi und Mausi ersparen. Natürlich ist eine Geschichte wie die von Mitterrand heute undenkbar. Welche Frau mit auch nur einem Hauch von Selbstbewusstsein würde es akzeptieren, zurückgezogen und anonym zu leben, weil ihr Liebhaber aus bourgeoiser Moral, katholischer Provinzialität oder Bequemlichkeit die Scheidung von seiner Frau verweigert? Aber François Mitterrand ist 1916 geboren. Und Anne Pingeot die Tochter eines Industriellen aus Clermont-Ferrand. Aufgewachsen in marineblauen Faltenröcken, unter dem Katechismus und dem höchsten Ziel: Gesichtswahrung. Ein Milieu, in dem Kinder, die außerhalb der heiligen Bande der Ehe gezeugt wurden, zu Unehre gereichen. Ein Milieu, in dem man aber vor allem nicht über sich selbst spricht. „Ich habe das Inakzeptable akzeptiert“, sagt sie heute.

Auf der Beerdigung erfuhr die Welt die Wahrheit

Es ist dieses Parallelleben, das sich vor unseren Augen entschleiert, eine künstlerische Komplizenschaft (Anne Pingeot ist eine unabhängige, arbeitende Frau, Kunsthistorikerin und frühere Konservatorin am Musée d’Orsay). Eine Liebesgeschichte zu ihrer Tochter Mazarine, in Verborgenheit 1974 geboren (mit der Anekdote: Anne Pingeot wird in die Schule ihrer Tochter gerufen, weil sie ständig behauptet, ihr Vater sei der Präsident der Republik. Die Lehrerin zweifelt an ihrem geistigen Zustand, will der Mutter klar machen, dass das der Anfang einer weitreichenden psychischen Krankheit sein kann. Und Anne Pingeot sagt: „Es ist wahr.“). Eine Geschichte von Leidenschaft, der erste Brief ist auf 1962 datiert, der letzte auf den Januar 1996, drei Monate vor Mitterrands Tod. Dann, am Tag der Beerdigung erfährt Frankreich am Friedhof die Wahrheit: Hinter seiner Witwe und seinen Kindern steht diese große zarte Frau, die geröteten Augen hinter dem schwarz bespitzten Gesichtsschleier, die Hand auf der Schulter ihrer Tochter. Die zweite Familie von François Mitterrand. Vielleicht die echte.

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- Aus dem Französischen übersetzt von Fabian Federl.

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