Großbritannien: Einigungsdruck beim Brexit auf allen Seiten
Theresa May hat keine Strategie beim EU-Ausstieg, aber einen heimlichen Verbündeten: den Faktor Zeit. Eine Analyse.
Basketballspiele zwischen gleichwertigen Mannschaften werden häufig erst in den letzten Minuten entschieden. Dann zählen Kampfeswillen, Nervenstärke und Cleverness. Der Brexit ist zwar kein Spiel, sondern sowohl für die EU als auch für Großbritannien eine denkbar unerfreuliche Angelegenheit. Aber ähnlich wie beim Basketball spielt der Zeitfaktor eine immer größere Rolle. Am Mittwoch waren es noch 58 Tage bis zum geplanten Brexit-Datum am 29. März. Offen bleibt dabei die Frage: Gibt es bei den endlosen Verhandlungen ein Wunschergebnis, das die britische Premierministerin Theresa May ansteuert, ohne es der Öffentlichkeit zu verraten?
Es ist zu bezweifeln, dass die seit Juli 2016 als Regierungschefin amtierende May über eine inhaltliche Strategie beim Brexit verfügt. Zunächst versuchte sie es im vergangenen Sommer mit ihrem so genannten Chequers-Plan, der auf eine Teil-Mitgliedschaft Großbritanniens im EU-Binnenmarkt hinauslief. Aber sowohl zahlreiche Kabinettsmitglieder in London als auch die EU blockten ab. Beim EU-Gipfel im vergangenen Dezember versicherte sie dann den Vertretern der verbleibenden 27 Staaten, dass der inzwischen ausgehandelte EU-Austrittsvertrag genau ihren Wünschen entspreche. Nun will May diesen Deal plötzlich wieder nachverhandeln.
Am Mittwoch, am Tag nach den Brexit-Abstimmungen im Unterhaus, stellte der schottische SNP-Abgeordnete Ian Blackford der Regierungschefin im Parlament angesichts des Hin und Her die rhetorische Frage, ob Mays „Inkompetenz“ jetzt „ein neues Niveau“ erreicht habe. Allerdings liegt die Schuld für das Durcheinander weniger bei May, sondern bei den zerstrittenen Konservativen. May verkauft gegenüber der EU jeweils das als aktuelle Marschroute, was sie gegenüber den Tory-Parteifreunden gerade noch durchbringen kann.
May will den Brexit liefern - was auch immer das heißt
Das einzige klare Ziel Mays besteht darin, den Austritt Großbritanniens irgendwie zu vollziehen. „Deliver Brexit“ ist inzwischen zum Mantra der Tory-Parteichefin geworden. Um dieses Ziel zu erreichen, kommt ihr der Zeitfaktor entgegen: Je näher der 29. März und damit die Gefahr eines ungeordneten Brexit rückt, umso größer wird auch der Einigungsdruck auf allen Seiten. Der Druck bleibt insbesondere deshalb hoch, weil das Unterhaus am Dienstagabend zwei Änderungsanträge ablehnte, welche mehr Zeit für die Verhandlungen vorsahen.
Auch EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker erklärte: Das Votum des britischen Parlaments für Nachverhandlungen mit Brüssel erhöhe "das Risiko eines ungeordneten Austritts". Nachverhandlungen lehnt die EU ab. Juncker bekräftigte das am Mittwoch erneut.
Mays eigentliche Strategie könnte also darin bestehen, einfach die Uhr bis zum 29. März ablaufen zu lassen und zuzuschauen, wie sich die Beteiligten in Brüssel und London dabei verhalten. Zunächst einmal hat sie nach den jüngsten Unterhausabstimmungen jetzt zwei Wochen Zeit, um mit der Europäischen Union über eine mögliche Neuregelung der Nordirland-Klausel im Austrittsvertrag zu verhandeln. Zwar steigt inzwischen auch in den Reihen der verbleibenden 27 EU-Staaten angesichts des weiter drohenden No-Deal-Szenarios die Nervosität. Dennoch kann May nach derzeitigem Stand kaum mit großen Zugeständnissen bei möglichen Gesprächen über die Nordirland-Klausel rechnen.
Mitte Februar kommt der nächste Showdown im Unterhaus
Falls es May aber gelingen sollte, Änderungen beim so genannten Backstop zu erreichen, will sie das Unterhaus ähnlich wie Mitte Januar zu einem bindenden Votum zusammenrufen. Eine Zustimmung des Parlaments zu einem neu verhandelten Deal wäre aus Mays Sicht das Best-Case-Szenario. Im Fall einer Nicht-Einigung in Brüssel sind anderenfalls Mitte Februar neuerliche Test-Abstimmungen wie am Dienstagabend geplant. Und am Ende setzt May dann wohl darauf, dass eine Mehrheit im Unterhaus ein Einsehen hat – und einen unveränderten Deal mit der EU annimmt.