100 Jahre Sykes-Picot-Abkommen: Eine verhängnisvolle Linie teilt den Nahen Osten
Vor 100 Jahren teilten Paris und London den Nahen Osten in Einflusszonen auf. Doch die Konflikte in Syrien und Irak zeigen: Die Ordnung von einst löst sich auf.
Die Geschichte des modernen Nahen Ostens beginnt mit Verrat, kolonialer Willkür und einigen Federstrichen. Vor 100 Jahren, am 16. Mai 1916, unterzeichnen die Regierungen in Paris und London eine geheime Vereinbarung, mit der die damaligen Großmächte die arabische Welt unter sich aufteilten.
Grenzen, mit dem Lineal gezogen
Auf das Abkommen hatten sich der britische Politiker Mark Sykes und der französische Diplomat François Georges-Picot verständigt. Es sah vor, nach dem erwarteten Zusammenbruch des Osmanischen Reiches dem Nahen Osten sowohl eine neue strukturierende Ordnung zu geben als auch den beiden europäischen Ländern möglichst viel Einfluss in der Region zu sichern. So wurden Mandate ausgerufen, mit dem Lineal schnurgerade Grenzen in den Wüstensand gezogen, Staaten gegründet – willkürlich und allein auf Grundlage eigener Interessen. Die Briten sicherten sich dabei den Raum um den Irak, Jordanien und Palästina; Frankreich sollte fortan das heutige Syrien und den Libanon kontrollieren.
Ethnische Gruppen, traditionelle Stammesgebiete, kulturelle Eigenheiten und vor allem religiöse Gegebenheiten spielten in den Plänen von Sykes und Picot allerdings keine Rolle. Auch dass London wenige Monate zuvor dem Sherifen Hussein als Herrscher über Mekka ein eigenständiges arabisches Großreich versprochen hatte, kümmerte niemanden. Für die arabische Welt ist deshalb das gebrochene Versprechen bis heute nichts anderes als ein niederträchtiger Verrat des Westens.
Korrupte Machtelite
Hinzu kommt: Das Sykes-Picot-Abkommen konnte keine stabile Ordnung etablieren. Die künstlich geschaffenen Staaten kennen bis heute kaum so etwas wie nationale Identität. Arabische Herrscher nutzen vielmehr die ethnischen und religiösen Gegensätze, um ihre Macht zu etablieren – indem sie die verschiedenen Gruppen politisch gegeneinander ausspielen. Neben Syrien macht sich das vor allem im Irak auf fatale Weise bemerkbar. Seit dem Abzug der Amerikaner im Jahr 2011 gleitet das Land immer mehr ins Chaos ab. Als Staat steht der Irak nur noch auf dem Papier. Und nach den jüngsten Protesten in Bagdad gegen die korrupte Machtelite gilt das Land zwischen Euphrat und Tigris als unregierbar.
Ministerpräsident Haider al Abadi konnte sich bisher nicht mit seinen im Grunde vernünftigen Vorhaben durchsetzen, eine Technokraten-Regierung zu installieren. Ein Kabinett also, das auf Qualifikation und nicht auf Erbhöfen gründen soll. Der Widerstand der verschiedenen ethnischen und religiösen Seilschaften, die Ämter und Einfluss für sich beanspruchen, ist einfach zu groß. Sie fühlen sich nicht etwa einem übergeordneten Gemein-, sondern allein Eigenwohl und Eigennutzen verpflichtet.
Im Irak kommt noch etwas erschwerend hinzu: Der jahrhundertealte Konflikt zwischen Sunniten und Schiiten prägt nach wie vor den politischen Alltag. Als der sunnitische Diktator Saddam Hussein gestürzt wurde, übernahm Nuri al Maliki die Regierungsgeschäfte. Der Schiit setzte aber keineswegs auf Versöhnung, sondern grenzte mit aller Macht die Sunniten aus. Die Gräben zwischen den beiden islamischen Glaubensrichtungen sind seitdem noch tiefer geworden, als sie es ohnehin schon waren.
Der "Islamische Staat" - ein Profiteur
Einer, der vom Zerfall des Iraks ebenso profitiert wie vom innermuslimischen Antagonismus, ist der „Islamische Staat“ (IS). Die Terrormiliz geriert sich als Kämpfer für die sunnitische Sache. Tod und Schrecken für irakische Schiiten sind die Folge. Erst vor wenigen Tagen verübten die Dschihadisten in der Hauptstadt Bagdad mehrere Anschläge, bei denen Dutzende Menschen ums Leben kamen. Auch das ein Erbe des Sykes-Picot-Abkommens.
Ohnehin hat der IS der vor 100 Jahren geschlossenen Vereinbarung den Krieg erklärt. „Wir zerschmettern die Sykes-Picot-Grenzen“, hatten die Fanatiker Mitte 2014 erklärt. Dann überrollten ihre Bulldozer die Kontrollposten zwischen dem Irak und Syrien, hissten schwarze Fahnen und verbrannten die Pässe ihre Herkunftsländer. Damit führten die Islamisten der Welt vor Augen: Die Schlachtfelder sind entgrenzt, die Ordnung von einst obsolet.