Deutschland und die Flüchtlinge: Eine Regierung verleugnet sich selbst
Sigmar Gabriel kritisiert die Kanzlerin, die selbst längst die Wende vollzogen hat. Der Ton in der Flüchtlingspolitik ist hart geworden, kalt, desillusionierend. Verliert Deutschland den Glauben an sich selbst? Ein Kommentar.
Das sind einige Nachrichten des Wochenendes: SPD-Chef Sigmar Gabriel kritisiert die Kanzlerin. Die Union habe die Herausforderungen unterschätzt. „Es ist undenkbar, dass wir in Deutschland jedes Jahr eine Million Menschen aufnehmen.“ Grünen-Chef Cem Özdemir kritisiert Einwanderer, die sich nicht integrieren. „Wenn man dieses Land verachtet oder für moralisch minderwertig hält: Warum sollte man dann hier leben wollen?“
Der CSU-Politiker Markus Söder will Hunderttausende Flüchtlinge zurückschicken, auch nach Syrien. „Selbst beim besten Willen“ werde es nicht gelingen, „so viele Menschen aus einem fremden Kulturkreis erfolgreich zu integrieren.“ Der Präsident des ifo-Instituts, Clemens Fuest, meint, es werde kein zweites Wirtschaftswunder durch Flüchtlinge geben. Der Chef des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge, Frank-Jürgen Weise, ergänzt: „Wir brauchen diese Menschen nicht zur Deckung unseres Fachkräftebedarfs.“
Aufgeregte Debatten
Was für Töne! Hart, kalt, realistisch, desillusionierend. Begleitet werden sie von aufgeregten Debatten über die Kinderehe, die Burka, die Loyalität von Deutschtürken. Dabei kommen kaum noch Flüchtlinge. Die Balkanroute ist dicht, die Asylrechtsverschärfungen – Ausweitung der sicheren Herkunftsstaaten, strenge Residenzpflicht, erleichterte Abschiebungen – verfehlen nicht ihre abschreckenden Effekte. Und Angela Merkel hat längst die Wende vollzogen, ohne freilich das vergangene Jahr mit all seinen Irrungen und Wirrungen, den Großherzigkeiten und Naivitäten aufgearbeitet zu haben.
Auch daraus resultiert dieser erbarmungswürdige Zustand, dass jetzt jeder, der mitmachte, schon immer gewarnt haben will, selbst Gabriel, der vor einem Jahr noch stolz darauf war, mit einem Button am Revers im Bundestag zu sitzen, auf dem steht: „Wir helfen – refugees welcome“. Eine halbe Million Flüchtlinge pro Jahr hielt er für verkraftbar, „vielleicht auch mehr“.
Wo sind sie geblieben? Die Optimisten, die Frohgemuten, die Hoffnungsvermittler? Wer traut sich noch, die ehrenamtlichen Flüchtlingshelfer zu loben? Deutschland hat sich gewandelt. Vielleicht verliert es gerade den Glauben an sich selbst.