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Politik: Eine Nacht im November

Zäsur vor den Augen der Welt: Neuerscheinungen zu den Pogromen vor 75 Jahren.

Am frühen Morgen des 7. November 1938 nimmt die Geschichte ihren schicksalsträchtigen Lauf. Herschel Grynszpan verlässt gegen 8 Uhr 30 das Pariser Hotel Suez und betritt wenig später das Waffengeschäft „Zur scharfen Klinge“. Dort kauft der 17-Jährige für 245 Francs einen Trommelrevolver der Marke Hammerless samt Patronen. Dann macht sich der junge Mann im hellen Trenchcoat auf den Weg in Richtung deutsche Botschaft. Er will ein Zeichen setzen, seiner Empörung über das Schicksal der Familie und vielen tausend anderen Juden spektakulären Ausdruck verleihen.

Um 9 Uhr 45 betritt Grynszpan einen kleinen Raum, in dem ein gewisser Ernst vom Rath sitzt, und zögert keinen Augenblick: Er zieht seine Waffe, ruft „Sie sind ein schmutziger Deutscher, hier ist das Dokument, im Namen von 12 000 verfolgten Juden“, zielt auf die Mitte des Körpers und gibt fünf Schüsse auf den Legationssekretär ab. Zwei Kugeln treffen den Jungdiplomaten. Dennoch kann vom Rath die Tür öffnen und um Hilfe rufen. Dann sackt der 29-Jährige stark blutend und schmerzgekrümmt auf einem Stuhl zusammen. Der Attentäter macht keine Anstalten zu fliehen und lässt sich festnehmen. Zwei Tage später stirbt vom Rath. Für die Nazis ein willkommener Vorwand, um die in Deutschland lebenden Juden umgehend zu Freiwild zu erklären. Es beginnt eine beispiellose Welle der Gewalt gegen die ohnehin schon unterdrückte, entrechtete und verfolgte Minderheit.

Doch das mehrere Tage dauernde große Plündern, Niederbrennen und Morden hat nichts mit einem spontanen Ausbruch des Volkszorns über eine „jüdische Weltverschwörung“ zu tun, wie die Nazis behaupten. Die Novemberpogrome sind eine von ihnen geplante und organisierte Aktion. Die Täter kommen überwiegend aus den Reihen der SA, SS und den Organisationen der NSDAP. Nach entsprechenden Anweisungen mobilisierten die lokalen Verbände umgehend ihre Mitglieder und schlugen los.

Gut 24 Stunden hielt die Zerstörungswut an. Und sie war ein dramatischer Wendepunkt. Eine Zäsur, die vor den Augen der Welt die deutsch-jüdische Epoche beendete, wie Raphael Gross schreibt. Ein Fanal, das vor 75 Jahren selbst den gutwilligsten Juden auf brutale Art und Weise klarmachte, dass sie im „Dritten Reich“ nichts mehr verloren hatten. Auch wenn keiner von ihnen damals wissen konnte, dass die reichsweiten Ausschreitungen der Auftakt zur systematischen Auslöschung von Millionen Menschen sein sollten.

Gross nennt die dramatischen Tage und Nächte im November 1938 folgerichtig „die Katastrophe vor der Katastrophe“. In seinem schmalen, gleichwohl inhalts- wie gedankenreichen Buch spricht der Direktor des Jüdischen Museums Frankfurt am Main zu Recht von einer neuen Dimension der Gewalt. Das Jahr mit seinen Ereignissen markiert den Übergang von Diskriminierung und Entrechtung zur systematischen Verfolgung, Ausraubung und Vertreibung. Und die Pogrome waren der sichtbarste Ausdruck dieser Politik.

Niemals zuvor oder danach wurde das staatliche Gewaltmonopol quasi ohne Gegenwehr in die Hände einer antisemitischen „Volksgemeinschaft“ gelegt. „Was in der ‚Reichskristallnacht’ zutage trat, war das ungeheure Potenzial an Hass und Verachtung, mit dem das NS-Regime und große Teile der Bevölkerung in aller Öffentlichkeit dem angeblichen Feind im Innern, den Juden, den Krieg erklärt hatten.“ Allein die angesichts des Leids nüchtern wirkenden Zahlen untermauern Gross’ Einschätzung: Im ganzen Reich wurden 1400 Synagogen, mehr als 170 Wohnhäuser und 7500 Geschäfte zerstört. Es gab 1500 bis 2000 Todesopfer. Mehr als 30 000 jüdische Männer wurden nach dem 10. November in die Konzentrationslager Dachau, Sachsenhausen und Buchenwald verschleppt.

Wie sich diese Katastrophe vor der Katastrophe für die Opfer im Einzelnen auswirkte, wie die Menschen drangsaliert, zu Tode kamen und die Bevölkerung zum Teil darauf mit herzloser Gleichgültigkeit reagierte, ist vielfach dokumentiert. Auch Konrad Heidens jetzt erstmals auf Deutsch erschienener Text „Eine Nacht im November 1938“ gehört in diese Reihe. Dennoch ist dessen zeitgenössische Beschreibung der Geschehnisse etwas Besonderes. Zum einen, weil der damals im Exil lebende Journalist akribisch zahlreiche, im Amsterdamer „Jewish Central Information Office“ gesammelte Augenzeugenberichte auswertete. So erhielt Heiden einen eindringlichen Einblick in die Ereignisse und verfasste darauf gestützt ein erstes quellenbasiertes Buch über die „Reichskristallnacht“. Zum anderen besitzt seine pointierte Darstellung literarische Qualitäten. Er schafft es, der Dramatik des Tages zumindest ansatzweise gerecht zu werden und auch den heutigen Leser in den Bann zu ziehen.

Heidens Text macht zudem auf beängstigende Weise nachvollziehbar, dass die Nazis nach den Pogromen „vernichten“ zwar noch im Sinne von „ausschalten“ gebrauchten. Doch die tödliche Dimension des Begriffs schwingt in vielen Formulierungen bereits mit. „Von hohen Führern des Regimes wird heute gerne die Wendung ,auf den Knopf drücken’ gebraucht, wobei sich die Zuhörer nicht recht klar sind, ob sie das Gesagte ganz ernst nehmen sollen; erläuternd wird – immer noch unter der Maske der eventuellen Scherzhaftigkeit – gesagt: Alle Juden werde man in einem großen Raum versammeln und dann unter Knopfdruck das Gas auslösen.“ Für Heiden stand offenkundig fest, dass der 9. November 1938 einen Zivilisationsbruch darstellte, der mörderische Folgen haben würde.

Von all dem konnte Herschel Grynszpan am 7. November 1938 nichts ahnen. Sein Anschlag auf einen deutschen Diplomaten war die Tat eines Verzweifelten. Der in Hannover aufgewachsene Jude hatte wenige Tage zuvor erfahren, dass seine Familie wie tausende andere Juden im Zuge der „Polenaktion“ von den deutschen Behörden ohne Ankündigung ins Nachbarland abgeschoben wurde. Die Schüsse waren Grynszpans Form des Protests gegen die antijüdischen Schikanen. Nicht mehr, aber eben auch nicht weniger, wie Armin Fuhrer hervorhebt. Der „Focus“-Redakteur widerlegt dankenswerterweise einige Legenden, die sich um den heute weitgehend vergessenen jungen Mann ranken.

Zum Beispiel, dass es sich bei Grynszpans Attentat angeblich um ein Beziehungsdrama von zwei Homosexuellen handelte. Doch mit unerfüllter Liebe oder Eifersucht hatte der Anschlag nichts zu tun. „Die Schüsse wurden abgegeben aus Verzweiflung gegen das Unrecht, das ihm selbst, vor allem aber seiner Familie und dem Judentum insgesamt widerfuhr.“ Hoch angerechnet wurde dies Grynszpan in der Folge des Attentats nicht. Im Gegenteil. Sogar jüdische Organisationen distanzierten sich wortreich von dem Täter und seiner Tat. „Wir verabscheuen dieses Verbrechen. Es ist ein Verbrechen auch gegen den Geist des Judentums“, ließ zum Beispiel Leo Baeck, der Vorsitzende der Reichsvertretung der Juden in Deutschland, den Chef der Reichskanzlei noch am 7. November wissen. Worte, aus denen sicherlich die berechtigte Furcht vieler Juden sprach, die Nazis würden sie für die Schüsse verantwortlich machen.

Ein von der NS-Führung geplanter Schauprozess gegen Grynszpan kam merkwürdigerweise nicht zustande. Der Mann, dessen Schüsse die Gemüter bewegt und erregt hatten, verschwand 1942 im KZ Sachsenhausen, ohne Spuren zu hinterlassen. Nach Krieg und Völkermord machte sich niemand mehr Gedanken über den Attentäter von Paris. Biograf Fuhrer hat eine erschreckend einfache Erklärung für das Desinteresse: „In der Zwischenzeit waren Verbrechen geschehen, gegen die das Einzelschicksal von Herschel Grynszpan und auch von Ernst vom Rath zwangsläufig verblassten.“

Raphael Gross: November 1938. Die Katastrophe vor der Katastrophe. C.H.Beck, München 2013. 128 Seiten, 8,95 Euro.

Armin Fuhrer: Herschel. Das Attentat des Herschel Grynszpan am 7. November 1938 und der Beginn des Holocaust. Berlin Story Verlag, Berlin 2013. 365 Seiten, 19,80 Euro.

Konrad Heiden: Eine Nacht im November 1938. Ein zeitgenössischer Bericht. Wallstein Verlag, Göttingen 2013. 190 Seiten, 19,90 Euro.

Christian Böhme

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