Islamistischer Terror in Afrika: Eine Krake mit Namen Boko Haram
Fast täglich verübt Boko Haram Attentate in Nigeria und den angrenzenden Staaten. Der Westen hilft mit Ausrüstung und Beratern im Kampf gegen die Terrorsekte – doch selbst Militärs geben zu: Mit Waffen allein sind die Extremisten nicht zu besiegen. Ein Bericht aus Maroua im Norden Kameruns.
Die Angreifer kamen kurz nach dem Abendessen. Der Lamido, seine beiden Frauen und seine acht Kinder, saßen im Wohnzimmer, sie feierten gemeinsam den Ramadan, und brachen das Fasten mit Fladenbrot, Hühnchen und Reis.
Dann plötzlich Schüsse und "Allahu Akbar"-Rufe. Männer mit Kalaschnikows stürmten ins Zimmer, zerrten Seini Boukar Lamine, den "Lamido" genannten Bürgermeister, und seine Familie nach draußen, auf die Ladefläche eines wartenden Geländewagens. In Sekunden verschwanden die Angreifer mit ihren Geiseln in der Nacht. Zurück blieben die Leichen von drei erschossenen Wachmännern.
Die sunnitischen Islamisten bekamen 400.000 Dollar Lösegeld
Der 50-jährige Lamido erinnert sich genau an die Todesangst, die er spürte, als ihn im Juli vergangenen Jahres die Extremisten von Boko Haram aus seinem Haus in Kolofata, im Norden Kameruns, verschleppten. Dass er und seine Familie heute noch am Leben sind, hat wohl zwei Gründe: Als islamischer Würdenträger des Stammes der Kanuri, wurde er sogar von Boko-Haram-Kämpfern mit Respekt behandelt. Außerdem bekamen die Extremisten ein Lösegeld von 400.000 Dollar bezahlt, für den Lamido und die Frau des kamerunischen Vizepräsidenten, die zeitgleich entführt wurde.
Auch im Norden Kameruns wütet die Sekte
Auch hier, im äußersten Norden Kameruns, an der Grenze zu Nigeria, tobt der Krieg gegen die Terror-Sekte Boko Haram. Seit fünf Jahren ziehen die Kämpfer und ihr Anführer Abubakar Shekau eine Spur des Terrors und der Verwüstung durch den Nordosten Nigerias. Zwar musste Boko Haram zuletzt militärische Rückschläge hinnehmen. Doch nun eskaliert die Gewalt wieder: Allein in den vergangenen Wochen kamen bei Selbstmordattentaten in Nigeria hunderte Zivilisten ums Leben. Und in Kamerun sprengten sich vergangenen Mittwoch zwei Attentäterinnen auf einem Markt in der Stadt Fotokol in die Luft. Die Angreiferinnen hatten Sprengstoffgürtel offenbar unter ihren Burkas versteckt. Zwei Soldaten aus dem Chad und zehn Zivilisten starben. Die Sicherheitsbehörden reagierten mit einem Verbot von Ganzkörperschleiern und untersagten "größere Versammlungen" von Muslimen.
Der Lamido ist zwei Meter groß, ein Mann von mächtiger Statur, der nicht aussieht, als könne man ihm schnell Angst einjagen. Er lässt sich von Besuchern mit "Eure Majestät" ansprechen, seine Stirn und Wangen sind von Narben zerfurcht. Die Wundmahle sind das traditionelle Erkennungszeichen der Kanuri. Die Eskalation der Gewalt besorgt auch den Bürgermeister: "Boko Haram ist eine Gefahr für uns alle, sie können immer und überall angreifen." Auch weil die Terroristen zunehmend unter den Mitgliedern seines eigenen Stammes rekrutieren. Zweieinhalb Monate wurde der Lamido im Sambisa-Forest, dem Versteck von Boko Haram in Nigeria, festgehalten. Dort sah er auch einige junge Kanuri-Kämpfer, die sich von der Sekte hatten anwerben lassen. "Ihre Augen waren von Drogen getrübt, sie waren aggressiv und unberechenbar", erinnert sich die ehemalige Geisel.
Die einfachen Botschaften der Terroristen kommen bei vielen Armen gut an
Viele Kanuri, die in der Grenzregion zwischen Kamerun, Tschad und Nigeria leben, schließen sich der Sekte an. "Sie ködern unsere jungen Männer mit falschen Versprechen. Sie sagen: Bei uns bekommt ihr Geld für ein großen Haus und eine schöne Braut", erklärt der Lamido. Einfache Botschaften, die auf fruchtbaren Boden fallen: 60 Prozent der Bevölkerung in Kameruns "Extreme Nord"-Provinz leben in Armut.
"Boko Haram ist wie eine Krake, man schlägt ihr eine Tentakel ab, doch anderswo wächst eine neue nach", sagt Hauptmann Dieudonne Bea-Hob. Der 33-Jährige ist Kommandant der kamerunischen Spezialeinheit BIR, die von Israel und den USA unterstützt wird, mit Ausrüstung und militärischem Training. Auch die Kommunikation der Truppe klingt nach Pentagon-Sprech: "Wir müssen die Herzen und Köpfe der Menschen gewinnen", sagt Bea, der an der US-Militärakademie Westpoint studiert hat und mit amerikanischem Akzent spricht.
7500 Soldaten einer multinationalen Truppe kämpfen gegen Boko Haram
Täglich ist Bea in der Grenzregion zu Nigeria unterwegs – auf der Suche nach dem unsichtbaren Feind. Bislang starben in dem Konflikt 30 BIR-Soldaten, 90 wurden verwundet. Insgesamt 7500 Soldaten einer von Nigeria, Tschad, Niger und Benin aufgestellten Truppe kämpfen in der Region gegen die Extremisten.
Amnesty schätzt, dass seit 2009 mehr als 17.000 Menschen getötet wurden
Die sunnitische Terrorsekte führt einen blutigen Feldzug zur Errichtung eines sogenannten islamischen Gottesstaats. In diesem Kalifat soll dann einzig und allein eine radikale Auslegung der islamischen Rechtsprechung (Scharia) gelten. Amnesty International schätzt, dass dabei seit 2009 bereits mehr als 17.000 Menschen getötet wurden. Die Gruppe soll auch mehr als 2000 Frauen und Mädchen entführt haben, darunter die seit über einem Jahr vermissten 200 Schülerinnen aus dem Ort Chibok. Die Gewalttaten haben mehr als 1,5 Millionen Menschen in die Flucht getrieben.
Die USA wollen ihre militärische Unterstützung weiter ausbauen: Diese Woche beraten sie mit Nigerias Präsidenten Muhammadu Buhari über weitere Hilfen. Bereits nach der Entführung der Schulmädchen aus Chibok hatten die USA im Tschad einen Stützpunkt mit Drohnen eingerichtet.
Auch Kamerun setzte Drohnen im Kampf gegen Boko Haram ein, gibt Kommandant Bea zu, doch woher die Waffen stammen, dazu will er sich nicht äußern. Man überwache damit die etwa 400 Kilometer lange Grenze zwischen Kamerun und Nigeria. Doch er gibt auch zu: "Mit Waffen alleine können wir Boko Haram niemals besiegen."
Die Spezialkräfte wollen mit Comicheften aufklären
Darum setzten er und seine Kameraden bei den Besuchen in den Dörfern auf Information und Aufklärung. Die Spezialkräfte verteilen Comic-Hefte, in denen grimmige, bewaffnete Figuren zu sehen sind, die Bomben an einer Straße vergraben. Und aufrichtige junge Männer, die Verdächtige den BIR-Soldaten melden und dafür mit Anerkennung von ihren Nachbarn belohnt werden.
Doch ob Drohnen und Cartoons genügen, um die eskalierende Gewalt einzudämmen? "Wir richten uns auf einen langen Kampf ein", sagt Bea. "Vielleicht wird er noch Jahrzehnte dauern."
Die Terrortaten haben die Probleme der Region in den Fokus gerückt
Immerhin haben die Attacken von Boko Haram auch die Probleme der Region in den Fokus gerückt. Die Regierung Kameruns will den nördlichen Bundesstaat nicht länger vernachlässigen: 135 Millionen Dollar sollen in den kommenden Jahren in eine Region investiert werden, in der es keine Jobs gibt und in der 70 Prozent der Kinder unterernährt sind.
Vorerst bleibt die Lage jedoch prekär. Selbst der Lamido ist noch nicht in seine Heimatstadt Kolofata zurückgekehrt. Er wolle warten, bis sich die Sicherheitslage gebessert habe. Derzeit lebt er mit seinen Frauen und Kindern in einem Haus in Maroua, weit weg von der Front. Den Ramadan haben sie in diesem Jahr an einem geheimen Ort gefeiert.
Reinhard Keck
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