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9. November 1918: Eine deutsche Revolution

9. November 1918: Die Elite hat versagt, das Volk erhebt sich. Was tun in der Krise? Der Kaiser haut ab – die SPD soll den ruinierten Laden retten. Eine Geschichte mit seltsamen Parallelen bis in die Gegenwart. Aufgeschrieben von Harald Martenstein.

Geschichte ist wie Yoga. Wer sich mit Geschichte beschäftigt, wird gelassener. Denn das, was es gibt, worüber wir uns wundern oder aufregen, hat es fast immer schon mal gegeben. Anderswo. In einem anderen Zusammenhang. Aber doch so ähnlich.

Zu Beginn des Jahres 1918 stand, auf den ersten Blick, das Deutsche Reich besser da denn je. Deutschland war eine Aktie, deren Kurs explodierte. Der Sieg im Ersten Weltkrieg schien fast erreicht zu sein. Der Gegner im Osten, Russland, war kaputt. Ein Sieg gegen das riesige russische Imperium war also möglich, sogar, wenn man gleichzeitig im Westen Krieg führte! Daran würden viele Deutsche sich 1941 erinnern, beim Angriff auf die Sowjetunion.

Anfang 1918 zwang das Deutsche Reich Russland einen demütigenden, harten Frieden auf, den Frieden von Brest-Litowsk. Als Deutschland ein paar Monate später der demütigende, harte Friede von Versailles aufgezwungen wurde, wollte es sich daran nicht mehr erinnern.

Im Westen kämpfte das Reich hauptsächlich gegen Briten und Franzosen. Die USA, die 1917 in den Krieg eingetreten waren, brauchten noch Zeit, um Division für Division die Hauptmacht ihrer Truppen über den Atlantik zu schaffen. Für Deutschland kam es darauf an, innerhalb einiger Monate den Krieg auch im Westen zu gewinnen und sich dann mit den Amerikanern zu arrangieren. Das schien realistisch zu sein, mithilfe der Truppen von der Ostfront.

Der Kaiser war 1918 nur noch ein Schatten, eine Marionette in den Händen der mächtigen Militärs. Die starken Männer hießen Paul von Hindenburg, Chef des Generalstabes, und General Erich Ludendorff, seine rechte Hand. Wie Zocker, die sämtliche Chips auf ein einziges Feld setzen, schoben Hindenburg und Ludendorff alles auf die Sommeroffensiven des Jahres 1918. Eine Million Männer, die geglaubt hatten, den Krieg lebend überstanden zu haben, wurden mit Zügen von Russland nach Frankreich geschafft. Sie waren die Chips.

Warum platzte die Blase? Warum scheiterten die deutschen Armeen, die doch stärker schienen als je zuvor?

Die deutsche Armee war eine Aktie, deren Kurs sich vom realen Wert des Unternehmens weit entfernt hatte. Deutschland hungerte im Ersten Weltkrieg, anders als im Zweiten. Ende 1916 entsprach die tägliche Lebensmittelration pro Erwachsenem 1344 Kalorien, Ende 1917 waren es noch 1100 Kalorien. Die Soldaten waren ausgezehrt und müde. Wenn sie in die Linien ihrer Gegner einbrachen, fanden sie dort bergeweise Büchsenfleisch.

Die Erschöpfung und Demoralisierung der Soldaten war jedoch nur einer von mehreren Gründen für die Niederlage im Westen. Der Gegner brachte in großen Mengen eine neue Waffe auf das Schlachtfeld, den Panzer. Den Panzern konnten die Deutschen nichts entgegensetzen. Deswegen würde Deutschland, ein enorm lernfähiges Land, im zweiten Krieg ganz auf seine schnellen Panzer setzen. Und deswegen würden viele Deutsche bis 1945 daran glauben, dass Wunderwaffen einen so gut wie verlorenen Krieg noch einmal wenden können. Man hatte es ja 1918 erlebt, als die Briten ihre Panzer brachten.

Der Krieg saß 1918 in Labyrinthen aus Schützengräben, die Angreifer rückten zu Fuß vor, sie kamen langsam voran. Hinter den Linien der Verteidiger lagen Straßen und Bahntrassen, auf denen sie ihre Verbände immer wieder neu gruppieren konnten. In diesem Krieg, dem Stellungskrieg, waren Verteidiger immer im Vorteil. Es gab keine schnellen Siege. Und nur ein schneller Sieg konnte Deutschland noch etwas nützen.

Im März 1918 verstärkten die USA ihre Verbündeten auf den Schlachtfeldern Europas mit 330 000 Soldaten, im Juni schon mit 900.000. Im August war das deutsche Heer im Westen, dreieinhalb Millionen Mann einschließlich der einen Million aus Russland, am Ende. Es begann der Rückzug. Doch weil in diesem Krieg die Verteidiger im Vorteil waren, zerfielen die deutschen Fronten langsam, wie in Zeitlupe.

Was nun geschah, hat man oft erlebt, zuletzt in der Bankenkrise. Jemand fährt den Karren in den Dreck. Andere, für die man vorher nur Verachtung übrig hatte, sollen ihn herausfahren. Die Banken rufen den Staat um Hilfe. Die deutschen Generäle riefen die SPD. Sie wollten, wie gewisse Manager, die Verantwortung für ihr Scheitern nicht selbst übernehmen. Andere sollten schuld sein.

Es war ein Deal. Die Rechte, Militär und Kaisertreue, lieferten das Ende des undemokratischen Dreiklassenwahlrechts. Reformen. Verwandlung Deutschlands in eine parlamentarische Monarchie wie England, mit einem Kaiser, der nichts mehr zu sagen hat. Ein liberaler Kanzler, Max von Baden, der Erfinder des Wortes „Weltgewissen“. Im Gegenzug traten SPD, Liberale und Zentrum, die Partei des deutschen Katholizismus, in die Regierung ein. Die neue Regierung bat den amerikanischen Präsidenten um Waffenstillstand. Präsident Wilson ließ sich mit den Verhandlungen Zeit, denn die Zeit arbeitete für ihn.

Das Volk staunte. Es hatte in den letzten Jahren immer nur Siegesmeldungen gehört. Auf den ersten Blick sah es für viele so aus, als hätten die demokratischen Kräfte in einer Art Putsch die Macht erobert und danach Deutschlands fast schon sicheren Sieg weggeworfen. Verrat. Die Rechte fand dafür das Wort „Dolchstoß“. Die Rechte tat so, als ob derjenige unschuldig ist, der eine Firma in den Bankrott führt. Schuldig ist derjenige, der die bankrotte Firma übernimmt und versucht, zu retten, was noch zu retten ist.

Tatsächlich waren eher die Generäle die Verräter. Um ihr Image zu retten, hatten sie vor ihren linken Erzfeinden kapituliert und die Monarchie verkauft.

Die SPD hatte fast all ihre politischen Ziele erreicht, kampflos. Fast alles, was später als Ergebnis der Novemberrevolution gelten würde, vor allem die parlamentarische Demokratie, war im Oktober bereits durchgesetzt. Mit einer wichtigen Ausnahme – der Kaiser und all die vielen kleinen Könige und Fürsten waren nicht abgesetzt. Sie waren allerdings entmachtet. War die Revolution überhaupt noch nötig? War es überhaupt eine Revolution?

Nicht direkt.

Anfang November 1918 fassten die Admiräle der deutschen Marine einen einsamen Beschluss. Statt den Ausgang der Friedensgespräche abzuwarten, wollten sie mit ihrer Flotte den Engländern eine heroische letzte Seeschlacht liefern. Selbst ein – unwahrscheinlicher – Sieg hätte an der Niederlage Deutschlands nicht viel geändert, es handelte sich um ein Himmelfahrtsunternehmen, ein Blutbad für nichts. In Kiel meuterten die Matrosen am 4. November, hissten rote Fahnen, bildeten Matrosenräte nach russischem Vorbild, es wurde geschossen, es gab Tote. Von Kiel breitete die Revolte der Soldaten und Arbeiter sich innerhalb einiger Tage in ganz Deutschland aus.

Diese Revolte borgte sich ihre Symbole und ihre Rhetorik aus der gerade entstehenden Sowjetunion, aber sie hatte eigentlich nur ein einziges konkretes Ziel, und dieses Ziel hieß nicht Sozialismus. Niemand wollte mehr sterben in einem verlorenen Krieg. Auch diese Erinnerung würden die Nazis sich im zweiten Krieg zunutze machen. Sie würden behaupten, dass es dem deutschen Volk im ersten Krieg einfach an Todesbereitschaft gefehlt hat.

Am 9. November erreichte die Revolte Berlin. Generalstreik, Großdemonstration vor dem Reichstag.

Die SPD war in einer ähnlichen Lage wie heute. Es gab eine starke Linkspartei, die Unabhängige SPD, USPD, die sich abgespalten hatte, weil sie grundsätzlich gegen den Krieg war. Der linke Flügel der USPD würde sich schon bald zur KPD formieren, der Rest der USPD würde eines Tages zur Mutterpartei zurückkehren. Die SPD hatte eine Nummer eins, den vorsichtigen Friedrich Ebert, und eine Nummer zwei, den spontanen Philipp Scheidemann. Ebert war im Grunde zufrieden mit der konstitutionellen Monarchie, mit dem englischen Modell, das sich als künftige deutsche Regierungsform scheinbar abzeichnete. Er sah natürlich, dass die aufgeregten Massen jetzt ein Symbol brauchten, ein Opfer. Sein Plan sah so aus: Der Kaiser würde abdanken. Ein neu gewähltes Parlament würde, sobald die Lage sich beruhigt hatte, Deutschland zu einer demokratischen Monarchie erklären.

In der SPD folgt die Nummer zwei bekanntlich nicht immer dem Weg, den die Nummer eins sich vorstellt. Nicht nur in Hessen. SPD-Chaos! Scheidemann proklamierte völlig eigenmächtig, einer spontanen Stimmung folgend, am 9. November in einer Rede vom Balkon des Reichstagsgebäudes aus die Republik. Damit kam er dem Kommunisten Liebknecht genau zwei Stunden zuvor und nahm ihm den Wind aus den Segeln. Liebknecht rief vor dem Berliner Schloss den Sozialismus aus, genauer gesagt die „sozialistische Republik“, noch genauer gesagt: die Revolution. Aber das interessierte nach Scheidemanns Rede die Massen der Arbeiter und Soldaten nur noch begrenzt. In den frisch gewählten Arbeiterräten verfügte die SPD, auch dank Scheidemanns Rede, über eine deutliche Mehrheit. Ausgerechnet Ebert, der kein Freund der Revolution war, wurde vom Rat der Volksbeauftragten, dem Ersatzparlament der Räte, zum Chef einer „Revolutionsregierung“ gewählt. In diesem Falle hatte das SPD-Chaos ausnahmsweise ein für die Partei erfreuliches Ergebnis.

Im Grunde war das, was am 9. November 1918 geschah, also nicht eine Revolution, sondern die Verhinderung einer Revolution mithilfe eines geschickten Schachzugs von Scheidemann, also mithilfe des SPD-Chaos. Dass Deutschland eine demokratische Regierung bekommen würde, stand an jenem 9. November ja längst fest, die Siegermächte des Weltkriegs hätten auch gar nichts anderes zugelassen. Revolution – das hätte Sozialismus bedeutet, ein Sowjetdeutschland. Wie die Geschichte danach weitergegangen wäre? Sehr wahrscheinlich wäre Deutschland eine Diktatur geworden, nicht erst 1933, sondern schon 1919. Die Kommunisten waren eine kleine Minderheit, die Mehrheit der Arbeiterklasse stand nun einmal hinter der SPD. Ohne Diktatur hätte die Revolution sich nicht halten können.

Vielleicht wäre uns Hitler erspart geblieben, vielleicht auch nicht. Vielleicht hätte es statt eines Hitler einen deutschen Stalin gegeben. Der SPD ist in den folgenden Jahrzehnten oft Verrat vorgeworfen worden. Sie hat mit dem Militär paktiert, der Reaktion. In den unruhigen Monaten, die dem 9. November folgten, mit Straßenschlachten, Putschversuchen und kurzlebigen Räterepubliken, hat sie sich zur Verteidigung der Republik gegen die Linke sogar einer nationalistischen Freiwilligen- und Totschlägertruppe bedient, der sogenannten Freikorps. Denn die deutsche Armee gab es nicht mehr, sie löste sich nach dem 9. November auf wie ein Stück Würfelzucker im Tee.

Aber die SPD war keine Verräterpartei, im Gegenteil. Sie ist, wenn es um die Demokratie ging, immer die verlässlichste Partei gewesen. Nach 1918 verteidigte sie die Republik gegen links, 1933 verteidigte sie die Republik bis zuletzt gegen rechts, auch noch, als Liberale und Konservative längst aufgegeben hatten.

Noch am gleichen Tag, dem 9. November 1918, verkündete Kanzler Max von Baden die Abdankung des Kaisers ebenso eigenmächtig wie Scheidemann. Der Kaiser war nicht einmal gefragt worden. In der Nacht floh er nach Holland und kehrte nie wieder zurück. Auch Max von Baden trat zurück, er übergab die Kanzlerschaft an den wie fast immer vorsichtig zaudernden Ebert. Dafür gab es keine rechtliche Grundlage. Ein Kanzler kann und konnte nicht einfach so, aus eigenem Willen, sein Amt verschenken. Dies ist der eigentliche revolutionäre Akt des 9. November gewesen, der Rechtsbruch. Keine große Sache in Anbetracht der dramatischen Umstände. Der Reichstag konnte ohnehin nicht befragt werden. Die Abgeordneten befanden sich trotz der dramatischen Lage in Urlaub.

Manchmal scheint Geschichte sich tatsächlich zu wiederholen. Es gibt zum Beispiel erstaunliche Parallelen zwischen dem Ende des Kaiserreichs und dem Ende der DDR. Beiden Staaten wird der Todesstoß versetzt durch eine einzige, spontane, mit niemandem abgesprochene Rede, die an einem 9. November gehalten wird. Im einen Fall, 1918, ist es Scheidemann, im anderen Schabowski, der 1989 mit der Öffnung der Mauer im Grunde die Abdankung der DDR erklärt. Und in beiden Staaten gibt die politische Elite ab einem bestimmten Punkt fast lautlos und ohne große Umstände ihre Macht ab, das heißt: ohne Gewalt. Die SED und der Adel resignierten, Nazideutschland hätte am liebsten die ganze Welt auf seinem Ritt in die Hölle mitgenommen.

Im November geben die deutschen Fürsten, all diese Könige, Herzöge und Großherzöge, ihre Throne auf, einer nach dem anderen, jahrtausendealte Geschlechter zum Teil. Sie wehren sich wirklich kaum. Es genügt, dass eine Abordnung des örtlichen Arbeiter- und Soldatenrates bei ihnen auftaucht und sie höflich bittet zu gehen. Die Adelsherrschaft, all diese „eben noch selbstverständlichen, respektierten und unangefochtenen Institutionen“, wie Sebastian Haffner es beschreibt, sie verschwinden in jenem November wie ein Glas Wasser, das man im Sand ausgießt. In Erinnerung bleiben deutsche Eliten, die mit dem Leben von Millionen Soldaten zocken wie mit Casinochips und die anschließend die Verantwortung für ihr Scheitern anderen zuschieben. In Erinnerung bleiben Soldaten, die meutern, weil sie nicht einen sinnlosen Tod sterben wollen. Ein paar Jahre später, im nächsten Krieg, werden ihre Söhne sich verheizen lassen.

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